Auf dem Buchmarkt erscheinen immer wieder Publikationen, in denen Enkel über ihre Großeltern berichten. Persönlich, in der Familie und im Berufsleben bildete die Nazizeit für die Alten meist einen prägenden, oft tragischen Lebensabschnitt. Und die Frage lautet, wie etwa der Großvater mit den Verlockungen und den Fährnissen, die vielfach mit schuldhafter Verstrickung verbunden waren, umgegangen ist und wie solche Biographien heute zu hinterfragen sind.
Das Buch »Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12« von Naomi Schenck gehört in diese Kategorie. Der Großvater, Günther Otto Schenck (1913–2003), war ein bekannter Chemiker und Hochschullehrer. Die Enkelin ist eine erfolgreiche, international aktive Szenenbildnerin und Schriftstellerin, die mit dem Buch ein Vermächtnis ihres Großvaters erfüllen wollte. Kein Zuckerschlecken. Galt es doch, die Biographie kritisch abzuklopfen. Das Ergebnis präsentiert Naomi Schenck in einem lesenswerten »Projekt«-Bericht, der dem Leser freilich Aufmerksamkeit abverlangt, will er nicht beispielsweise angesichts der großen Schenckfamilie die Übersicht verlieren.
Günther O. Schenck startete seine wissenschaftliche Karriere unter seinem Lehrer und Mentor, dem späteren Nobelpreisträger Karl Ziegler, in Halle und konnte sie, abgesehen von kriegs- und nachkriegsbedingten Unterbrechungen, in Göttingen als Hochschullehrer ausbauen und in Mühlheim/Ruhr als Gründungsdirektor der Selbständigen Abteilung für Strahlenchemie im Max-Planck-Institut für Kohlenforschung krönen. Im Alter von 54 Jahren schied er krankheitsbedingt aus dem Dienst aus. Danach führte er als Emeritus unter relativ günstigen Bedingungen Forschungsarbeiten in seinem Haus weiter. Schenck wird in Nachrufen als einer der Pioniere der Photo- und Strahlenchemie bezeichnet.
Was eigentlich unstatthaft ist, erscheint im vorliegenden Fall angebracht: die Trennung des Großvaters in den Wissenschaftler und den Menschen.
Der Wissenschaftler Schenck war ein ideenreicher und leidenschaftlicher Forscher, dem die Fachwelt originelle Photosynthesen und interessante, wenn auch bisweilen umstrittene, Konzepte für die Auslösung und den Mechanismus photochemischer Prozesse zu verdanken hat. Unter Verzicht auf eine eingehendere Würdigung sei aber die im Buch mehrfach erwähnte wirtschaftliche Verwertungsorientierung seiner Arbeiten zur photochemischen Herstellung von Wirkstoffen hervorgehoben. Zeitweilig führte er eine eigene kleine Firma, hatte enge Beziehungen zu Chemieunternehmen und meldete zahlreiche Patente an. Viel Platz wird in dem Buch dem Verhältnis Günther Schencks zu seinem Zieh- und Übervater Karl Ziegler eingeräumt. Der Nobelpreisträger und Direktor des großen und einflussreichen Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung war in Mühlheim natürlich der Platzhirsch. Die Beziehung zwischen beiden erfuhr in den 60er Jahren aber eine Eintrübung, was wohl auf die unterschiedlichen Charaktere und auf divergierende Auffassungen in Hierarchie-, Struktur- und Finanzfragen zurückzuführen war. G. O. Schenck hat darunter offenbar gelitten. Die allgemeine Erfahrung, wonach sich der Zögling im Interesse seiner unabhängigen wissenschaftlichen Entwicklung so bald wie möglich von seinem Mentor absetzen sollte, findet der Leser hier bestätigt.
Die Autorin hat, wie sie freimütig betont, für naturwissenschaftliche Dinge kein Faible. Gerade deshalb ist es ihr hoch anzurechnen, dass sie die wissenschaftliche Vita ihres Großvaters anschaulich, für jedermann verständlich und untersetzt mit interessanten Beispielen nachzeichnet.
Jenseits des Wissenschaftlers Schenck vermittelt die Verfasserin im Buch aber ein recht kritisches und zwiespältiges Bild des alten Herrn. Privatim verkörperte Günther Otto das Zentrum einer wohlsituierten und angesehenen Bildungsbürgerfamilie, in der die Enkelin einen glücklichen Teil ihrer Kindheit zubrachte. So konnte sie für ihr Projekt auf einen reichen Fundus eigener Erlebnisse und Erinnerungen zurückgreifen, scheute aber keine Mühen, die Biographie auszuleuchten.
Schenck war 1937 NSDAP-Mitglied geworden und – was die Verfasserin erst spät erfuhr – bereits 1933 in die SA eingetreten. Letzteres gab ihr den Anstoß, das lange aufgeschobene Biographie-Projekt in Angriff zu nehmen. Bei den suspekten Mitgliedschaften handelte es sich anscheinend um passive, die wissenschaftliche Karriere absichernde Arrangements, die in der Nachkriegszeit dem verdrängenden Vergessen anheimfielen. Es war ja auch nicht notwendig, sich auf einen Beichtstuhl zu setzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen mit schwer nazibelasteten Familienangehörigen blieb der Verfasserin eine finale Abrechnung mit ihrem Großvater erspart. Im Übrigen war Schencks weltanschauliches und politisches Profil bis an sein Lebensende unscharf. Dabei gab es in und nach der Nazizeit dramatische Anlässe im Überfluss, um sich politisch zu artikulieren. Ausweislich seiner umfangreichen Aufzeichnungen finden sich von ihm beispielsweise zur Reichspogromnacht, die zur Zerstörung der in unmittelbarer Nähe seiner damaligen halleschen Wohnung befindlichen Synagoge führte, keine Betroffenheitsreaktionen. Und 1955, als Göttinger Studenten und Professoren bundesweit vernehmbar gegen den nazibelasteten niedersächsischen Kultusminister Leonhard Schlüter protestierten, war der »Chef« nicht dabei. »Der hatte keine Zeit.« Schließlich verursachte die »Schlüter-Affäre« an der Göttinger Universität starke Erschütterungen und führte dazu, dass – als Protest gegen Schlüters Berufung – der Senat mit Rektor Emil Woermann an der Spitze zurücktrat und Schlüter daraufhin als Kultusminister abdanken musste. Und zur 1957 abgegebenen Erklärung von 18 Göttinger Professorenkollegen gegen die nukleare Bewaffnung der Bundeswehr findet sich vom Strahlenchemiker Schenck (zwölf Jahre nach Hiroshima und Nagasaki!) kein Reflex. Auch hier offenbart das Buch eine verstörende Gleichgültigkeit des Protagonisten.
Günther O. Schenck litt nicht unter Minderwertigkeitskomplexen. »Dass ich ein guter Forscher bin, weiß ich.« Für einen Gastaufenthalt in den USA erwartete er ein Haus mit sieben Schlafzimmern. Und der Mercedes wurde »schräg auf dem Zweierparkplatz« abgestellt. Dieses im Buch mit vielen Beispielen beschriebene elitär-prätentiöse Gebaren, wofür, halten zu Gnaden, selbst der Wissenschaftler Schenck keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe zu liefern vermag, war in der Altbundesrepublik freilich nicht außergewöhnlich.
Exkurs: Dieses Heraushängen der eigenen Bedeutsamkeit illustriert einen beträchtlichen Unterschied zur kümmerlichen Selbstdarstellungsfähigkeit eines ostdeutsch Sozialisierten vergleichbarer Spezies, der nach Arnulf Baring ohnehin »verzwergt« war. Diese Unterschiedlichkeit, die in der Treuhandzeit geradezu ins Auge sprang, ist leider auch heute noch evident. Sie dürfte, abgesehen von Vernetzungsdefiziten und kultivierten Inferioritätskomplexen, einer der Gründe sein, weshalb auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ostdeutsche Führungs-positionen fast ausnahmslos mit Personal westdeutscher Provenienz besetzt werden.
Der Enkelin bewegt sich souverän auf einem konfliktträchtigen Terrain, das sich aufspannt zwischen der Verehrung und Dankbarkeit für ihren Großvater, dessen wissenschaftlicher Lebensleistung, seiner SA- und NSDAP-Mitgliedschaft, einer nebulösen weltanschaulichen und politischen Verortung sowie einer eliteorientierten, bildungsbürgerlichen Lebensgestaltung. Dabei mag der Leser von der Offenheit, der Aufarbeitungsintensität und der Sachlichkeit der Autorin durchaus stärker beeindruckt sein als vom intendierten Lebensbericht über ihren Großvater. Insgesamt ein sehr empfehlenswerter Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur.
Mir ging es wie der Witwe Bolte mit dem Sauerkohl, ich habe das Buch mit steigendem Gewinn zweimal gelesen.
Naomi Schenck: »Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12«, Hanser Berlin, 336 Seiten, 22,90 €