Nichts Menschliches ist ihm fremd. Nichts Unmenschliches schon deshalb nicht, weil es nach seiner Ansicht ins Menschliche eingeschlossen ist. Dr. Maximilian Aue, Jonathan Littells Ich-Erzähler im Roman »Die Wohlgesinnten«, der unter falschem Namen eine Spitzen-Fabrik leitet, nachdem er lange Zeit in Himmlers Namen ein Spitzenmörder war, sagt »wir«, wenn er von sich und uns spricht. Gleich zu Beginn der 1383 Seiten erklärt er: »Die wirkliche Gefahr – vor allem in unsicheren Zeiten – sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr.« Als gelte es, diese Gleichheit zwischen ihm und uns immerfort zu beschwören, lauten die ersten seiner 400.000 Wörter »Ihr Menschenbrüder«, während er mit den letzten Sätzen der Einleitung behauptet: »Ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!«
Da kann er viel erzählen, das ist er nicht. Er ist eine Versammlung von Eigenheiten, die in den meisten Menschen nicht einmal als Einzelheit anzutreffen sind. Er ist ein Massenmörder, ein Judenmörder, ein Muttermörder, ein Freundesmörder, ein Mörder bei jeder zwingenden Gelegenheit und auch bei nicht so zwingenden Gelegenheiten. Er ist SS-Mann, doch wiederum keiner von der einfachsten Art. Zuletzt im beträchtlichen Obersturmbannführer-Rang, gehörte er zum SD, der sozusagen die Gestapo in der Gestapo war.
Er ist promovierter Jurist und Volkswirt, der es als unkorrekt, weil unökonomisch bemängelt, daß man zwar unter der Parole »Vernichtung durch Arbeit« alle Häftlinge vernichtet, sie jedoch infolge ihres zerschundenen Zustands vorher nicht genug für den »Endsieg« hat arbeiten lassen. Beredt wird der Mann, dem durchgehend eine öde Sprache eigen ist, wenn er die Mühen der Führungsebene mit den Leichengebirgen schildert. Oder wenn er den Lernprozeß beschreibt, der bei einem Personalbestand aus häufig faulen und korrupten Mitarbeitern nötig war, um das Töten von der Manufaktur in die Massenfertigung zu heben.
Dieser Akademiker – einer von auffallend vielen, die sich laut Littell an Mordstätten wie Baby Jar oder Hohenlychen, Mittelbau Dora oder Birkenau einen Namen machten – ist beileibe kein Zwangsrekrutierter, dessen Blickfeld von Stahlhelm und Kochgeschirr eingegrenzt wird und meist nur vom Nebenmann links zum Nebenmann rechts reicht, sondern ein hochdekorierter Befehlsempfänger wie auch Ideengeber, der als Hand- und Kopflanger (auf romanhaft verwegene Weise) mit allen verkehrt – Hitler, Himmler, Eichmann, Bormann, Höß, Speer und Compagnie –, die im Zuge der »Endlösung« das höchste bis allerhöchste Sagen haben.
Daß der mit Dokumenten hypervertraute Autor Jonathan Littell auch für den mörderischen und doch zu Nachkriegs-Posten und Ehren gekommenen Mittelwuchs eine Menge Romanplatz findet und mit Kapiteln nicht geizt, die »Verbrechen der Wehrmacht« oder »Verbrechen der Wirtschaft« überschrieben sein könnten, soll hier gelobt werden, wie es anderswo keinen Beifall finden dürfte.
Entgegen seiner Behauptung ist Dr. Aue in kaum einer Weise ein Mensch wie du und ich. Sein Auge sieht alles Leid, an sein Herz reicht nichts davon. Er weiß jedes mörderische Tun gleichmütig und zugleich durch und durch abstoßend zu erklären. Während einer aus Karrieregründen angestrebten Frontkämpfereinlage in Stalingrad hat er einen Kopfschuß bekommen, wie man sonst keinen kennt; er kotzt sich, hätte er eine, die Seele aus dem Leib, ist oft so weichleibig, wie Mr. Portnoy hartleibig war, und ansonsten bei Verstand wie Hannibal Lecter.
Von dem kultivierten Unhold (»Das Schweigen der Lämmer«) unterscheidet Herrn Maximilian Aue unter anderem, daß er nicht verspeist, was er getötet hat. Hieße einer bisexuell, der als einzige weibliche Ausnahme neben vielen federnden und öfter gemieteten Herren die eigene Zwillingsschwester gelten läßt, dann wäre der promovierte Mordgeselle bisexuell zu nennen. Was ihn zwar keineswegs für seine Taten prädestiniert, ihn aber entgegen seinen Beteuerungen anders sein läßt, als es nennenswerte Teile der Menschheit in dieser Hinsicht sind.
Wenn der Autor die einander wohlgesinnten Verwandten nicht nur durch sexuelle Ekstasen jagt, sondern sie auch noch Längstverzehrtes ein weiteres Mal verzehren läßt, und zwar von hochwertigem Porzellan mit Messer und Gabel, gehen für meinen puritanischen Geschmack die erfinderischen Geister derart mit ihm durch, daß ich, lebte ich im trauten Kreis einer Familie, das Buch dem allgemeinen Zugang entzöge. Warum der Verfasser seine Figur so ausgestattet hat, weiß ich nicht. Hoffte er, auf diese Weise den Leser bei der bluttriefenden Stange zu halten? Ein Wunsch, der zwar von Verständnis für die Zumutungen zeugte, mit denen er uns kommt, aber die behauptete Identität zwischen ihm und gewöhnlichen Leuten ein weiteres Mal nicht belegte.
Tatsächlich habe ich mich selten mit einem freiwillig gelesenen Schriftstück so gequält wie mit diesen »Wohlgesinnten«. Weniger wegen der Atrozitäten, mit denen man es unablässig zu tun bekommt, eher wegen des ausgestellt banalen Berichterstattertones, dessen sich der monströse Herr Doktor weitgehend befleißigt. Gewiß ist das Erzählerabsicht, aber beim Gleichmut des »Einsatzgruppen«-Praktikanten, den ein paar Splitter unter seinen Fingernägeln mehr behelligen als die Erinnerung an hunderte von Frauen und Kindern, die er sendungsbewußt erschoß, merke ich die thesenpflegerische Absicht und sehe nach der Seitenzahl.
Mehr als schade wäre es, wenn es Leuten, die wenig von dem wissen, was in Deutschlands Namen geschah, ähnlich ginge. Denn diese nichtendenwollende höllische Drucksache hat neben solchen und anderen Mängeln ihre außerordentlichen Meriten. (Von den Mängeln gehen einige auf die Kappe des Lektorats und des ansonsten bestaunenswerten Übersetzers Hainer Kober. Ein Revolver, dies beispielsweise, ist etwas anderes als eine Pistole. Mit dem »bekannten Kneifer« Himmlers ist wohl Himmlers bekannte Nickelbrille gemeint. Und zwischen einem Kommissar und einem Volkskommissar besteht ein Unterschied wie zwischen Ministrant und Minister.)
Zu den Greueln und Scheueln, wie man sie, um nur Weniges und sehr Unterschiedliches zu nennen, mit Kogons »SS-Staat«, Pliviers »Stalingrad« oder mit Malapartes »Haut«, Merles »Der Tod ist mein Beruf«, Rosts »Goethe in Dachau«, Sempruns »Langer Reise«, Peter Edels Auschwitzberichten und – thematisch ganz nahe bei Littell – Adamowicz‘ »Henkersknechten« durchlesen und durchleben mußte, kommt in den »Wohlgesinnten« die Denkungsart eines intelligenten und heillos verdorbenen Rädelsführers zu uns herüber. Anders als der unübertrefflich verdienstvolle »Shoah«-Autor Claude Lanzmann meine ich sehr wohl, die Shoah-Täter hätten eine Stimme und Jonathan Littell habe eine davon für uns hörbar gemacht. Und zwar – dies gilt nicht nur für gebrannte Leser wie mich, sondern dürfte für jeden gelten, der sich solch anstrengender Lektüre unterwirft – ohne eine Apologetik, die Aussichten bei uns hätte, und ohne auch nur einen Funken Verständnis aus uns zu schlagen. Im Gegenteil, man hält nun alles für möglich und richtet sich etwas wacher darauf ein. Dieses gottlose Buch wird seinem Gegenstand gerecht.
Jonathan Littell: »Die Wohlgesinnten«, Berlin Verlag, 1383 Seiten, 36 €