Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. So steht es in Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie ist danach sogar ein sozialer Rechtsstaat. Selbstverständlich hat sie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet, im Gegensatz zur DDR. In Artikel 6 der Konvention wird unter anderem verkündet: »Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird ...« Dieser Anspruch ist also ein Menschenrecht. Es wird in Deutschland nicht gewährleistet. Die Justiz hat kein Geld und folglich nicht genügend Richter.
Artikel 6 der EMRK meint mit »billig« nicht wohlfeil. Für Juristen bedeutet billig so viel wie gerecht. Was aber nützt ein gerechtes Urteil dem, der es nicht mehr erlebt? Das fragten und fragen sich viele, die sich auf den langen Rechtsweg machen mußten, um zum Beispiel die Rente zu erhalten, für die sie ein Arbeitsleben lang ihre Beiträge gezahlt hatten. Den Hartz-IV-Empfängern steht diese Erfahrung noch bevor. Dabei ist keineswegs sicher, daß gut wird, was lange gewährt hat.
Wenn Politik im Spiel ist – und wo ist sie nicht im Spiel? – wird alles noch schlimmer. Ein Fall mag das illustrieren.
Herr X wurde 1944 aus rassischen Gründen zur Zwangsarbeit am Atlantikwall nach Frankreich deportiert. Seine Mutter war 1942 in ein Konzentrationslager verbracht und in Auschwitz ermordet worden. In der DDR wurde er Jurist und war zuletzt als Oberrichter tätig. Er erhielt eine Ehrenrente als Verfolgter des Faschismus. Nach dem Anschluß bezog Herr X zunächst die DDR-Rente weiter, allerdings in DM. Mit einem Rentenbescheid vom 19. November 1992 in der Fassung vom 6. Januar 1993 wurde Herrn X die bisher gezahlte Ehrenpension als Entschädigungsrente in Höhe von 1.400 DM zuzüglich eines Kindergeldzuschusses von 200 DM bewilligt. Daneben bezog Herr X eine Altersrente von 2.049,90 DM.
Die Entschädigungsrente wurde Herrn X mit Bescheid vom 24.4.1996 aberkannt. Dagegen erhob er am 30.4.1996 Klage beim Sozialgericht. Danach begannen die Mühlen der Justiz ihr Mahlwerk.
Das angerufene Gericht wies drei Jahre später, am 23.4.1999, die Klage ab. Dagegen legte Herr X Berufung ein. Das Berufungsgericht wies nach drei Jahren und fast fünf Monaten am 14.9.2000 die Klage ebenfalls ab. Dagegen legte Herr X Revision ein. Das Bundessozialgericht hob schon zwei Jahre später, am 31.10.2002, beide Urteile auf und verurteilte die Bundesrepublik Deutschland, die Entschädigungsrente weiter zu zahlen. Was lange gewährt hatte, wurde also gut. Doch nicht für lange.
Das Bundessozialgericht hatte die Urteile der unteren Gerichte nur wegen eines Formfehlers aufgehoben. Also konnte der Prozeß nach fast neun Jahren noch einmal beginnen. Mit Schreiben vom 15.2.2005 wurde Herrn X angekündigt, daß seine Entschädigungsrente um 80 Prozent gekürzt werden solle. Der entsprechende Bescheid erging am 23. März 2005. Darauf folgte am 22.4.2005 die erneute Klage. Am 12. März 2007 teilte das Sozialgericht mit: »Ein konkreter Termin kann derzeit wegen der Belastung der Kammervorsitzenden mit ca. 700 teils älteren, teils Eilverfahren nicht in Aussicht gestellt werden.« Am 20. Juni 2008 teilte das Gericht mit: »Aufgrund einer Vielzahl von Verfahren kann derzeit nicht bestimmt werden, wann ein Termin stattfinden wird. Eine Ladung wird Ihnen jedoch rechtzeitig zugehen.« Das ist der aktuelle Stand. Herr X ist inzwischen 86 Jahre alt. Sollte der Prozeß wieder durch alle Instanzen gehen, was zu befürchten ist, wird Herr X mindestens 95 Jahre alt sein, wenn das rechtskräftige Urteil ergeht. Nein, Herrn wurde und wird das Menschenrecht, daß über seine Klage in angemessener Frist entschieden wird, nicht gewährt.
Artikel 6 EMRK fordert zudem, daß jeder Anspruch auf ein unparteiisches Gericht hat. Ist ein Gericht, das ausschließlich aus westdeutschen Richtern besteht, unparteiisch in einem Streit, der seinen Ursprung in einem Konflikt aus dem Kalten Krieg hat? Können Richter der Bundesrepublik das Urteil eines Richters der DDR in einem politischen Prozeß unparteiisch beurteilen? Dürfen sie das überhaupt? Nach Paragraph 9 des Richtergesetzes darf in das Richterverhältnis nur berufen werden, wer »die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt«. In der Auseinandersetzung, wie sie zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Kalten Krieg stattfand, gehörte dazu die Parteinahme für seinen Staat. So konnte Herr X ebenso wie andere DDR-Bürger in ähnlichen Situationen schwerlich ein unparteiisches Gericht finden.
Bleibt das Problem der »Billigkeit«. Herrn X war in zwei Instanzen der Anspruch auf Entschädigungsrente aberkannt worden, weil er in vier politischen Prozessen nach den Gesetzen der DDR entschieden hatte. Diese Entscheidungen waren von der Staatsanwaltschaft zuvor unter dem Gesichtspunkt etwaiger Rechtsbeugung überprüft worden. Die Staatsanwaltschaft hatte festgestellt, daß Herr X keine Rechtsbeugung begangen hatte. Der Entzug von 80 Prozent der Rente entspricht einer Geldstrafe von jährlich 6.720 Euro, die sich in den drei Jahren seit der Klageerhebung auf 26.880 Euro summiert haben.
Ergebnis: Herrn X wird vom Rechtsstaat das Recht auf eine Entscheidung durch ein unparteiisches Gericht in angemessener Frist verwehrt. Es ist zu befürchten, daß das rechtskräftige Urteil, wenn es denn eines Tages gefällt sein wird, auch kein billiges ist.