Der Einmalschirm
Vier junge Herren kommen in die Pizzeria. Unauffällig dunkel gekleidet. Sie stellen einander ihre Agenturen vor. Zur Pasta trinken sie nicht Rotwein, sondern Apfelschorle. Fit sein und bleiben ist alles. Als ob es keine Krise gäbe, reden sie über den Aufbau von Märkten, die Lancierung von Produkten und neue Cards für irgendetwas, mit Gadgets und Zugängen zu Events für die Kunden. Einer berichtet von einer Erfindung, für die nun Startkapital nötig sei: einem Regenschirm in der Größe einer Streichholzschachtel, aus hauchdünner Folie, der sich bei Bedarf zu 80 Zentimeter Umfang entfaltet. Natürlich nur für einmaligen Gebrauch. Herstellungskosten ein Euro, Preis zwei Euro. Ein Großhändler wolle fünf Millionen Stück abnehmen. Auch die Tourismusbranche zeige sich bereits interessiert. Kein Wunder, regnet es doch nicht selten mal plötzlich im Urlaub, und wer hat denn dann schon einen unhandlichen Schirm dabei? Der Erfinder war übrigens früher bei der Firma Knirps angestellt. »Die Knirpse waren ihm wohl noch zu groß.« Lachen. Nächstes Thema.
Aber das wäre es doch: neben dem Bankenrettungsschirm der Regierung der Einmalschirm gratis für jeden Bundesbürger. Damit er nicht im Regen stehen bleibt. Das ultimative Konjunktur-programm. Kostengünstig, individuell und origineller als der Bau von Pyramiden oder das Graben tiefer Löcher, das John Maynard Keynes seinerzeit als Möglichkeit erschien, in der Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Reiner Diederich
Souverän
Das muß man dem jetzigen Bundeswirtschaftsminister lassen: Er weiß mit dem Wort umzugehen. Journalisten fragen ihn: »Was halten Sie von John Maynard Keynes?« Freiherr von und zu Guttenberg antwortet: »In schwierigen Zeiten wie diesen kann es sein, daß man einige seiner Überlegungen vorübergehend nicht ganz außer Acht lassen darf.«
Ob der Minister nun Keynes gelesen hat oder nicht, ob er von ihm Gebrauch machen will oder nicht – der Satz paßt auf jeden Fall. Das hätte sein Landsmann, Parteifreund und Vorgänger im Amt niemals zuwegegebracht.
A.K.
Gratulation
Altkanzler Gerhard Schröder feiert demnächst seinen 65. Geburtstag, dazu gratuliert ihm mit einem öffentlichen Brief Professor Oskar Negt, der in Westdeutschland lange Zeit im Ruf des ideellen Gesamtlinken stand. Seine Freundschaft mit Schröder, so erzählt er, habe begonnen, als der in den 1970er Jahren um »strategischen Rat« gebeten habe, wie er im Flügelkampf der Jusos mit den Anhängern der Theorie vom »staatsmonopolistischen Kapitalismus« umgehen solle. »Eine Truppe phantasiereicher Anti-Revisionisten« seien diese Stamokaps damals gewesen, meint Negt; aber da trügt ihn seine Erinnerung. Tatsächlich waren die »Antirevisionisten« Gegner der Stamokaps. Mit letzteren sich einzulassen, wird Negt nicht empfohlen haben, denn »Stamokap« galt als theoretischer Einfall der DDR. Aber egal, denn Schröder wußte ja, was er wollte: oberster Juso werden. Da kam es auf diese oder jene Deutung marxistischer Konzepte gar nicht an, sondern aufs Sammeln von Delegiertenstimmen. Die »Anti-Revisionisten« waren seine Hauptverbündeten – und bald vergessen.
Negt bedauert, daß Schröder sich später nicht mehr für die Lehre vom »Stamokap« interessiert hat; die sei inzwischen überraschenderweise ganz realistisch. Schröder als dem großen »Staatsmann Europas« sei zuzutrauen gewesen, eine »theoretische Verbindung von Karl Marx und Rudolf Hilferding« herzustellen und sie strategisch einzusetzen, um den Kapitalismus zu zügeln. Ja wenn ..., aber da hat eben auch Negt nicht rechtzeitig das Richtige geraten, und so ist diese historische Gelegenheit verpaßt.
Negt freut sich, daß Schröder auf Negtsche Kritik an seiner Regierungspolitik gar nicht »verletzt« reagiert habe, so müsse es unter Freunden zugehen. Er hätte erwähnen können, daß Schröder keinen Grund hatte, sich zu ärgern. Wo sonst hätte der Stratege Schröder einen prominenten Linken finden können, der tiefschürfende Einwände gegen den Schröderschen Politikentwurf mit der dringenden Empfehlung verband, Schröder zu wählen?
M. W.
Späte Rehabilitierung
70 Jahre hat es gedauert, bis die Schweizer Spanienfreiwilligen für ihr Land keine vaterlandslosen Gesellen mehr sind. Der Ständerat, die zweite Kammer, hat ihrer Rehabilitierung zugestimmt. »Ihr Kampf für Demokratie und Freiheit verdient Anerkennung«, sagte Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf. Einwände kamen nur von der Schweizerischen Volkspartei des Milliardärs Christoph Blocher. Ihr Vertreter im Ständerat, Hannes Germann, behauptete in der Aussprache: »Der Krieg in Spanien war nie ein Krieg zwischen liberaler Demokratie und Faschismus.«
Etwa 800 Freiwillige aus der Schweiz – darunter 28 Frauen – nahmen zwischen 1936 und 1939 am Spanischen Bürgerkrieg teil. Sie kämpften auf der Seite der demokratisch gewählten Regierung gegen die Putschisten unter dem von Hitler und Mussolini unterstützten General Franco. Der Blutzoll der Schweizer Freiwilligen war hoch. Ein Viertel von ihnen fiel im Kampf, die Heimkehrer wurden wegen »fremden Kriegsdienstes« verurteilt. Die Entscheidung des Ständerats kommt für die meisten der Spanienkämpfer allerdings zu spät: Nur fünf von ihnen sind noch am Leben.
Karl-Heinz Walloch
Soeben erschienen ist ein biografisches Handbuch »Die Schweizer Spanienfreiwilligen«, hg. von Peter Huber und Ralph Hug, Rotpunktverlag Zürich, 480 Seiten, 36 €
Von Wilhelm II. zu Hitler
Von einem deutschen Historiker war ein solches Buch nicht zu erwarten. Es ersetzt Regalwände und sei jedem nachdrücklich empfohlen, der sich bei der Suche nach den Gründen des deutschen Faschismus, auch seiner immer noch aktuellen Nachwirkungen, nicht mit allzu bequemen Formeln zufrieden geben will. Wette vertritt eine Position, die auf weit verbreitete Denkverbote stößt. Er untersucht, ob und in welchem Ausmaß sich Verbindungslinien vom zweiten deutschen Kaiserreich zum Dritten Reich ziehen. Während die seriöse ausländische Forschung an einer solchen Kontinuität seit langem keinen Zweifel hegt, hat sich die deutsche Geschichtsschreibung abgekoppelt: Sie verengt den Blick nach wie vor auf den Zeitraum von 1933 bis 1945 und tut so, als hätte der erste Weltkrieg mit dem zweiten nichts zu tun. Sie läßt einfach weg, daß die Nazis vor allem deshalb so stark geworden sind, weil die Propaganda, die Deutschlands Unschuld am Krieg beteuerte und die Revision von Versailles forderte, die Deutschen im Kriegszustand beließ. Der deutsche Leser erfährt in der Regel kaum etwas davon, zu welchen Ergebnissen die ausländische Historiographie im Zusammenhang mit der Frage »Wie konnte es geschehen?« gekommen ist.
Das Buch von Wette führt den Zusammenhang von preußischem Militarismus und deutschem Faschismus eindrucksvoll vor Augen und weist auf verschiedenen Gebieten nach, daß die Menschenverachtung und besondere Grausamkeit des NS-Regimes bereits viel früher ausgebildet war, wie es denn auch schlechterdings nicht vorstellbar ist, daß man ein ganzes Volk in wenigen Jahren so umkrempeln kann, wie es den Nazis gelungen sein soll. Vielmehr haben sie, selbst vom preußisch-neudeutschen Machtstaatsdenken geprägt, an all die Traditionen einer Kriegsmentalität angeknüpft, die lange vor ihnen vorhanden und vornehmlich in deutschvölkisch und revanchistisch gesinnten Kreisen, aber auch in der Mentalität zahlreicher Verantwortlicher in Staat, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft ausgeprägt waren. Die Tendenz, Preußen und seinen Militarismus auszuklammern oder gar freizusprechen, ist nach wie vor groß. Die unvoreingenommene Analyse der historischen Fakten aber, wie Wette sie bietet, kommt zu einem anderen Ergebnis.
Hervorhebenswert ist, was Wette über die Frauen im Ersten Weltkrieg »als psychologische Stützen der männlichen ›Helden‹«, den »Ort der Frauen im NS-Militarismus« und die Militarisierung der weiblichen Jugend nach 1933 schreibt. Ebenso scheut sich der Autor am Schluß seines Buches nicht, nach den militaristischen Tendenzen in der Bonner Republik und im wiedervereinigten Deutschland zu fragen.
Offenbar ist sein Buch wegen seiner klaren Sprache – oder weil es den gängigen »Sprachregelungen« nicht entspricht – bislang kaum gewürdigt worden. Wenn überhaupt, so faßt man es offenbar mit einer ganz langen Zange an, um bloß nicht das vorherrschende Geschichtsbild revidieren zu müssen, wie es Gerhard Ritter, Hans Herzfeld, Theodor Schieder, Hans Rothfeld gemacht haben. Gegen die kleindeutsch-borussifizierte Geschichtsschreibung ruft er solche Kritiker des Militarismus preußischer Provenienz wie Franz Carl Endres, Generalmajor Freiherr von Schoenaich, August Siemsen, Hans Paasche, Georg Michael Pachtler, Ludwig Quidde, Alfons Falkner von Sonnenburg, Friedrich Wilhelm Foerster oder Heinrich Ströbel in Erinnerung. Sie zu würdigen, wie Wette es in seinem Buch tut, ist nicht nur ein Verdienst, sondern auch ein Akt der Gerechtigkeit.
Helmut Donat
Wolfram Wette: »Militarismus in Deutschland – Geschichte einer kriegerischen Kultur«, S. Fischer Verlag, 309 Seiten, 24.90 €
Walter Kaufmanns Lektüre
»Northline« – das ist eine von Jimmy Bodie in den Sand gezeichnete Linie, die nach Norden verläuft, immer nordwärts von Reno in Nevada bis hin nach Alaska. Dahin sehnt sich der Mann, dahin will er vor sich selber fliehen. Er hat Las Vegas, die Stadt der Spieler und Spielhöllen, satt. Er ist ein Verlorener, nicht mit sich im Reinen, einer, der gut sein kann und liebenswert ist und zugleich die verquersten Ansichten hat, neonazistische Ansichten. Im Grunde verabscheut er sie, oft genug aber kehrt er die rohen Seiten eines Skinheads heraus, gemein, fies, innerlich kaputt. Ein Säufer ist er obendrein. Weil das so ist, läuft ihm die Frau davon, die er auf seine Weise liebt und die er braucht. Sie ist schwanger von ihm, und doch verläßt sie ihn, läßt auch die Mutter und Schwester in Las Vegas zurück und landet in der Einsamkeit von Reno, wo sie kellnert und Staubsauger übers Telefon verkauft und wo sie ihr Baby zur Adoption freigibt – und sich diese Tat ständig vorwirft. Und wo ihr Dinge passieren, die noch schlimmer sind als die vorangegangenen in Las Vegas. Bis sie endlich eine Art Halt bei einem Mann findet, den das Leben so arg gebeutelt hat wie sie ...
Schon mit »Motel Life« hat Willy Vlautin, der 39jährige Sänger und Songwriter bewiesen, daß er teuflisch gut schreiben kann. Mit »Northline« beweist er es wieder. Man spürt, daß er mit den Menschen auf der Schattenseite fühlt. Er hat ein Herz für sie, und er begreift diese Allison Johanson als eine junge Frau, die irgendwie versucht, durchs Leben zu kommen und zu überwinden, was ihr zugestoßen ist, und mit den Fehlern klarzukommen, die sie gemacht hat.
Wunderbar zu lesen. Und Robin Detje hat den Roman kongenial übersetzt.
W. K.
Willy Vlautin: »Northline«, Berlin Verlag, 204 Seiten, 19.90 €
Press-Kohl
Michael Braun, stellvertretender CDU-Vorsitzender in Berlin, hat sich gestoßen. Das kann jedem mal passieren, wenn er nicht aufpaßt, aber Herr Braun stieß sich, weil er besonders scharf aufpaßte.
Seine Fraktion hat laut dpa »vom Parlamentspräsident Momper Aufklärung über eine geplante Ausstellung mit Karikaturen von Rainer Hachfeld im Abgeordnetenhaus verlangt, in der ›zotenartige Werke‹ gezeigt werden sollen.«
»Ich hoffe, Sie werden bei der Auswahl der Bilder das Ansehen des Parlaments beachten«, postulierte Braun und bat Momper, bei Gelegenheit zu erklären, »wo der politische oder künstlerische Pfiff ist, wenn der Bundesadler den Berliner Bären zu begatten versucht, mit der Sprechblase: Ich geb‘ mir ja Mühe, aber es ist einfach gegen die Natur.« Mit solchen Weltproblemen plagen sich unsere Parlamentarier. Walter Momper sagte dazu schlicht, aber treffend: »Bei Karikaturen ist es immer so, daß nicht alles jedem paßt.«
Felix Mantel