Wiedergutmachung
»Ballastexistenz« ist tabu. Ein Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Ein Naziwort. Aber man höre auf den Ton, mit dem die Leute das erlaubte Wort »Sozialhilfeempfänger« aussprechen, sie meinen damit nichts anderes. Ob in einem Land »Unkraut« wachse, schrieb einst der Semantik-Altmeister Leo Weisgerber, hänge von der Sprache seiner Bewohner ab. Da haben wir es in Deutschland weit gebracht! Wir leben seit langem in einem Land, in dem nur noch »Wildkräuter« wachsen und die »Spontanvegetation« den Schutz von ganz oben genießt. Die Hoffnung jedoch, daß eines Tages »Sinti« und »Roma« die »Zigeuner« ersetzen, haben wir aufgegeben.
Empowerment
Benno ist Basisberuhiger von Beruf. »Mein bestes Pferd im Stall«, lobt ihn Ministerialrat Schülpen, Abteilung Innere Sicherheit. Neue Wörter, so hat man mit Hilfe der Tiefenpsychologen herausgefunden, sind ein gutes Beruhigungsmittel. Jedenfalls in Deutschland, dem Land der Wortgläubigen.
»Mehr Semantokratie wagen!«, tönt B-3-Mann Schülpen, wenn er zu verstehen geben möchte, daß er Willy Brandt verstanden hat, »vollinhaltlich«, wie er immer hinzufügt, wenn er sich Rückfragen verbittet.
Im Moment steht das Wort Empowerment ganz hoch im Kurs. »Empowerment«, doziert Benno, »nennen wir die Befähigung der Unterdrückten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.« Das kommt gut an bei den Unterdrückten. Endlich erhalten sie alles, was man braucht, um sich selbst an die Kette zu legen. Von eigener Hand gestaltete Fesseln, jede individuell und unverwechselbar. Ob Impressionismus oder Bauhaus, alle Richtungen sind erlaubt! Damit auch alle verstehen, was hier vorgeht, wird von »Selbstverwirklichung« geschrieben und gesprochen und gesendet, rund um die Uhr.
Auch das Unglück hat einen neuen Namen. Es heißt jetzt »Glück«. Und ein jeder soll seines Glückes eigener Kunstschmied werden. Die glücklichen Unterdrückten wissen, daß sie mit ihrer Eigeninitiative die Ordnungskräfte in die Enge treiben. Wenn jeder sich selbst an die Kandare nimmt, wozu braucht es dann noch die Bullen mit ihren finsteren Folterwerkzeugen? Für die Bullen hatten die Unterdrückten noch nie etwas übrig. Das motiviert sie doppelt, selbst Hand an sich zu legen.
Benno ist gelernter Bulle, hat aber früh gemerkt, wohin der Hase läuft. Heute macht Benno auch Empowerment-Seminare für seine alten Kollegen. Gerade nutzlos gewordene Bullen bleiben gefährlich, weil sie nach wie vor scharfe Waffen tragen. Darum läuft die Empowerment-Schulung für Bullen unter dem altbiblischen Motto »Schwerter zu Pflugscharen«, das man zeitgenössisch abgewandelt hat: »Berettas zu Tauchsiedern!«, »MGs zu Gehhilfen!« Das sind nur zwei von einem halben Dutzend Parolen, die die Seminarteilnehmer auf ihren »Motto-Shirts« tragen, die zur Seminaruniform gehören. Benno hatte jede Menge Contra erwartet. Jetzt ist er überrascht, wie hellauf begeistert seine ehemaligen Kameraden bei ihrer eigenen Entwaffnung mitmachen. Empowerment wirkt Wunder.
Einfach nur vorbildlich
Eine gewisse Verzögerung der Meinungsbildung an Samstagen ist neuerdings zu beobachten. Vor Ort anwesende Augen- und Ohrenzeugen eines Ereignisses um 16 Uhr 10 möchten sich nicht vor 22 Uhr des gleichen Tages über das soeben Erlebte äußern. Zwar glauben sie, und es sind Tausende und Zehntausende, alles haargenau mit den eigenen zwei Augen gesehen zu haben, doch weiß man inzwischen, daß die Nahaufnahmen und Zeitlupen des Fernsehens uns alle eines Besseren belehren können. Das subjektive Auge kommt gegen das kalte Objektiv der Kamera nicht an. Darum ist Zurückhaltung geboten. Schließlich will man am Ende nicht als Depp der Nation dastehen. Also braucht es die sechs Stunden bis zum »ZDF-Sportstudio«, um endgültig die eigene Meinungsbildung abschließen zu können.
Der gesamte Vorgang zeugt von einer Gewissenhaftigkeit der Urteilsfindung, die einfach nur vorbildlich zu nennen ist. So abgeklärt, so fernsehgläubig wünscht man sich den modernen Staatsbürger in der Mediokratie! Auch wenn es in unserem Fall nur um die Aberkennung eines Tores wegen angeblicher Abseitsstellung des Schützen geht.
Weltbild
Eine volltrunkene Bischöfin evangelischen Glaubens fährt mit dem Auto bei Rot über die Ampel. »Aus Frust über ihre Scheidung«, lautet eine Erklärung ihrer Anhänger. Ihre notgeilen Brüder katholischen Glaubens entleeren sich in wehrlose Internatsschüler. »Aus Frust über das Verbot der Eheschließung.« Da paßt die Nachricht vom Speerwurfwettbewerb in Kapstadt gut ins Bild. Ein Speer hatte sich in der Luft plötzlich um 180 Grad gedreht und war dem verdutzten Sportler direkt in die Brust geflogen. Da der Athlet weder unverheiratet noch geschieden war, mußte zur Erklärung die Klimakatastrophe herangezogen werden: »thermische Schubumkehr als Folge der Überproduktion an Kohlendioxyd«. Damit haben wir alle drei Muster zusammen, mit denen zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Welt erklärt werden kann. Ein Jahrhundert der Aufklärung kündigt sich an!
Denkmäuser und Duckmäuser
»Wenn wir an die Macht kommen, werden wir als erstes die Globalisierung beenden.« Sagt ein Rechtsextremer in Mikrofon und Kamera. Der Reporter denkt: Der ist größenwahnsinnig. Hat aber Angst, es ihm ins Gesicht zu sagen. Statt dessen gibt er sich »kritisch«, wie er betont, und stellt die Frage nach der »Umsetzbarkeit« des Vorhabens. Das ist praktizierte Feigheit. Eine kritische Haltung, die sich auf Machbarkeitserwägungen beschränkt, ist immer feige. »Dann wird es auf deutschem Boden keinen Dönerkebab mehr zu kaufen geben«, antwortet der Rechtsextremist. Jetzt wirkt der Reporter unsicher. Soll er erleichtert oder erschrocken sein über die begrenzte Phantasie des Größenwahns?