Einst wollte Maxim Gorki, so sein Regisseur Stanislawski, den Zuschauer aufrütteln, »daß er sich in seinem Sessel nicht mehr wohlfühlt«. Heute in Hamburg hat sich Luk Perceval, der Oberspielleiter des Thalia-Theaters, von solchen altbackenen Idealen weit entfernt und demonstriert das an dem Stück »Kinder der Sonne«, das der Dichter 1905 nach dem Massaker zaristischer Truppen an friedlichen Demonstranten geschrieben hat, als er selber in Haft saß. Perceval walzt alles wie mit einer großen Rolle nieder, vereinheitlicht, verflacht, verfälscht.
Auch das Bühnenbild (Katrin Brack) ist eine Rolle: eine riesige Papierrolle, auf der mit Pinsel und Farbe in naiver Manier das dargestellt wird, was nicht auf die Bühne paßt: die Sonne, Häuser, Bäume, ein gedeckter Tisch, Gräber mit Kreuzen. Jeder darf mal malen. Die 13 Schauspieler sitzen fast die ganze Zeit nebeneinander auf einem langen Tapeziertisch, sehen das Publikum an, sprechen nach vorn, fast nie miteinander, zueinander. Wer redet gerade mit wem? Das ist unklar. Klar ist: Hier herrscht Entfremdung, wirkliche Kommunikation ist nicht mehr möglich.
Der Anfang läßt tatsächlich die Zuschauer unruhig auf ihren Sitzen hin- und herrutschen. Aber nur, weil nichts geschieht. Die wie aufgereiht dasitzenden Schauspieler schweigen viele Minuten lang. Erst das Klingeln eines Handys auf der Bühne beendet die Stille. Wir erfahren, daß hier eine Selbsterfahrungsgruppe »meditatives Schweigen« übt. Hübsche Idee – nur mit Gorkis Stück hat sie nichts zu tun. Der das Schweigen brach, der Schlosser Jegor (Josef Ostendorf), paßt nicht ins Haus des Biochemikers Protassow, zu den »Menschen besonderer Art«. Bei Perceval – nicht bei Gorki – schreit er ins Publikum: »Geht alle mal richtig scheißen, hallo.« Also einer, der sagt, was er denkt. Soll man denken. Anders als der Professor, der Maler, der Tierarzt, die zu den »Kindern der Sonne« gehören. Die pathetische Sätze über die Kunst und das Leben von sich geben. Die Zukunftsvisionen haben. Und die – so wollte es Gorki – lächerlich wirken in ihrer Abgehobenheit, ihrer Weltfremdheit.
Dagegen die Vertreter des Volkes, Handwerker, Zimmermädchen, die alte Kinderfrau – »diese Menschen sind die toten Zellen im Organismus«, läßt Gorki Protassow (Jens Harzer) herablassend sagen. Der Hausherr erkennt aber auch: »Zwischen uns und den gewöhnlichen Leuten ist in der Tat eine weite Kluft, und es muß etwas geschehen, um das Volk uns näher zu bringen.« Aber er tut nichts, lebt nur für seine Forschungen. So wie alle jene Sonnenkinder nichts tun, als sich zu langweilen, Tee zu trinken und die Frau des andern zu begehren – oder den Mann.
Perceval gibt der Frau des Schlossers (Lisa Hagmeister) die Freiheit, sich zu prostituieren, aufreizend in lethargischer Pantomime. Das Zimmermädchen (Nadja Schönfeldt) vergnügt sich unter dem Tapeziertisch so nebenbei. Der Arzt Kirill (Tilo Werner) fällt durch ein russisches Lied und seinen ekstatischen Striptease aus der Rolle. Eine Spaßfigur. Viel Beifall.
In Gorkis Stück erreicht ein Arzt mit letzter Kraft das Haus, gejagt von den Aufständischen, weil sie ihn mitverantwortlich machen für den Ausbruch der Cholera. In Hamburg findet das gewaltsame Eindringen des Volkes nicht statt. Das Herrenhaus ist ja auch nur ein Tapeziertisch. Irgendwann rennen alle um den Tisch herum und brüllen zum Publikum: »Schlagt doch zu.«
Protassows Schwester Lisa (Patrycia Ziolkowska) aber, klein, verlassen, von dem Tierarzt Tschepurnoj (André Szymanski) unglücklich geliebt, kann nicht an sich selbst glauben, weil sie, wie alle sagen, krank ist. Ihre Krankheit ist ihre klare Sicht auf die Welt draußen: »Ihr seid alle blind. Ich hab´s auf der Straße gesehen, wie der Haß sich Luft machte.« Gorki läßt Lisa an das soziale Gewissen rühren: »Weil ihr satt seid und gut gekleidet. Der Haß ist blind. Aber ihr seid im Licht.« Hat sie es wirklich gesagt? Es geht unter, verliert sich. Nur kein soziales Pathos aufkommen lassen. Keine Anklagen wie bei Volker Löschs Arbeitslosenchören im Hamburger Schauspielhaus. Cool bleiben ist Percevals Devise.
Lisa wird wahnsinnig, kippt schwarze Farbe über die Leinwandrolle und befleckt sich selbst. Tschepurnoj fühlt sich als »überflüssiger Mensch« und zieht sich auf seine Art aus der Welt zurück, hängt sich auf. Den letzten Satz spricht seine Schwester Melanija: »Scheiß, jetzt muß ich auch noch meinen Bruder beerdigen.«