Als 150. Jahrestag der Gründung des italienischen Nationalstaates war der 17. März 2011 Feiertag – trotz des Widerstands der separatistischen, für nationale Einheit wenig begeisterten Lega Nord und auch des italienischen Unternehmerverbandes, der auf die Profite eines Arbeitstages nicht verzichten mochte. Regierungschef Berlusconi gab sich patriotisch und wich Staatspräsident Napolitano bei keinem der feierlichen Staatsakte in Rom, Turin und Mailand von der Seite. Selbst die römische Kurie schickte höchste Vertreter und unterstrich die christlichen Werte, die nach ihrer Lesart das Fundament auch der neuen Nation bildeten. Die jahrzehntelange folgenschwere Gegnerschaft des Papstes zu eben dem Nationalstaat, dem er 1870 seine weltliche Macht abtreten mußte, wurde still übergangen. Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zugunsten des Kruzifixes, das in staatlichen Einrichtungen Italiens als Symbol gezeigt werden darf, bestätigte den reaktionären Zeit-Geist.
Mir drängte sich die Frage auf, ob und wie man wohl in zehn Jahren den 150. Jahrestag des Deutschen Reiches begehen wird: im Spiegelsaal von Versailles oder an der Mauer der Kommunarden in Paris? Oder religiös überhöht in der dann wohl wiederrichteten Garnisonkirche in Potsdam, dem übelsten Ort des preußischen Militarismus?
Der niedergeschlagene Gemütszustand im politisch uneinigen Berlusconien verdüsterte sich zunehmend durch die Horrornachrichten vom Atom-Tsunami und die überraschende Entscheidung Berlusconis, am Angriffskrieg gegen Libyen teilzunehmen – ungeachtet der Tatsache, daß der erste italienische Überfall auf die nordafrikanischen Provinzen des Osmanischen Reiches, aus denen dann die faschistische Agrarkolonie Libyen erkämpft wurde, genau hundert Jahre zurückliegt. Ein Platz an der Sonne auch für Italien! (s. Ossietzky 5/11).
Am 19. März wurden nicht nur die NATO-Basen auf der Appenninhalbinsel (s. »Italien, ein Flugzeugträger«, Ossietzky 4/07) umgehend bereitgestellt, sondern auch gleich acht italienische Tornado- und F16-Jagdbomber – die täglichen TV-Nachrichten gleichen Militärparaden. Darüber sind die politischen Fronten allerdings auch hier ins Wanken geraten: Die zur rechten Regierungskoalition gehörende Lega hat starke Vorbehalte gegen diesen Einsatz, aus der pragmatischen Einsicht, daß dann wohl libysche Energie für Italien knapp würde und vor allem daß »biblische Menschenströme aus Nordafrika« die Aufnahmekapazitäten des Landes sprengen könnten. Innenminister Maroni redet seit Wochen von nichts anderem und fordert Europas »Solidarität« ein. Inzwischen herrschen auf der Insel Lampedusa wieder menschenunwürdige Zustände mit mehr Flüchtlingen als Einwohnern (5.000). Unzählige schlafen auf Pappe unter freiem Himmel, denn das dortige Durchgangslager faßt nur 800 Personen.
Die Öffentlichkeit ist nicht wenig erstaunt über den unvermittelten Sinneswandel Berlusconis, der Gaddafi kürzlich noch als politischen Freund hofiert und mit ihm weitreichende Wirtschaftsabkommen geschlossen hatte. Gegen die Zusicherung von fünf Milliarden Dollar für Investitionen hielt Gaddafi die aus Schwarzafrika nach Libyen kommenden Flüchtlinge bisher selbst im Zaume, in unwürdigen Auffanglagern, Libyer selbst gehörten bisher nicht zu den Migranten. Ihr Land zog mit seinem wesentlich höheren Pro-Kopf-Einkommen als dem seiner Nachbarländer Arbeitskräfte an.
In den letzten vierzig Jahren hatten alle Regierungen der einstigen Kolonialmacht Italien einvernehmliche Kontakte zu Gaddafi unterhalten, weitreichende Verflechtungen mit libyschem Kapital bei Fiat, italienischen Banken und Fußballclubs und umfangreiche italienische Waffenexporte nach Libyen zeugen davon. Es blieb Berlusconi vorbehalten, sich für die Kolonialverbrechen in Libyen offiziell zu entschuldigen und Gaddafi bei der spektakulären Inszenierung seines letzten Staatsbesuches in Rom im August 2010 sogar die Hand zu küssen; selbst »Bunga-Bunga« will Berlusconi von seinem Wüstenfreund gelernt haben. Doch der am 6. April anstehende Mailänder »Ruby-Prozeß« gegen Berlusconi ist nun erst einmal aus der Presse gebombt.
Die parlamentarische Absicherung des militärischen Einsatzes erfolgte in Rom erst am 25. März, eine knappe Woche nach Sarkozys sogenannter »Feuerwehraktion zum Schutz der libyschen Zivilisten«. Die oppositionelle Demokratische Partei gab Schützenhilfe, das kennt man seit dem Beschuß von Belgrad, als der damalige Regierungschef Massimo D’Alema (einst PCI) Italien in den Krieg schickte. Die Mär von der zwingenden »humanitären« Tornado-Unterstützung der bewaffneten Rebellen gegen den blutigen Diktator Gaddafi wird nun mit unterschiedlichen Akzenten und Begründungen in fast allen politischen Lagern verbreitet – nur noch friedensbewegte Minderheiten und Restkommunisten (PRC und Federazione della Sinistra) scheinen zu erkennen, daß es im Nahen Osten um eine Neuordnung der Einflußsphären geht und vor allem die USA ein Tor nach Afrika aufstoßen wollen. Man erinnert sich vielleicht daran, daß auch Bill Clintons erster Versuch in diese Richtung (»Restore Hope« in Somalia) kläglich scheiterte. Ob seine Frau Hillary, die kürzlich zu Konsultationen in Kairo und Tunis weilte, erfolgreicher sein wird? Der ökonomische Vormarsch Chinas auf dem riesigen Kontinent scheint unaufhaltsam. Die Chinesen riefen übrigens ihre 33.000 Arbeitskräfte in Libyen bei Beginn der Unruhen zurück.
Angesichts der begonnenen Auflösung der bisherigen postkolonialen Machtverhältnisse in Nordafrika – vom Westen jahrzehntelang unterstützt, solange er von ihnen profitieren konnte – stellt sich die Frage nach der Zukunft. Sollten die arabischen Völker ihre Geschicke tatsächlich selber bestimmen, dann Gnade uns Gott, meinen unsere Machthaber und wollen sie deshalb nicht sich selbst überlassen, sondern militärische Weichen stellen, um unsere Ölversorgung zu sichern. Nicht von ungefähr sind es denn auch die alten Kolonialmächte der Region, die sich dazu berufen fühlen: Frankreich, England und eben Italien. Das erklärt auch den brüsken Sinneswandel in Rom – bezeichnenderweise hält sich Berlusconi seitdem völlig zurück: keine TV-Ansprachen an die verunsicherte und besorgte Nation, keine Stellungnahme im Parlament. Was, wenn Gaddafi doch die Oberhand behielte? Der Ausgang dieses riskanten Unternehmens ist bislang nicht absehbar. Mit wirtschaftlichen Einbußen ist jedenfalls zu rechnen. Die außerparlamentarische Restlinke in Rom fordert den sofortigen Rückzug.