Glaubt man den reißerischen Meldungen der Presse, dann gleichen manche Gefängnisse Hotels. Schwerkriminelle Gewalttäter werden als feine Gäste behandelt – und können bei nächster Gelegenheit mühelos türmen. Oder sie werden vorzeitig entlassen und sofort wieder rückfällig. Schnell ertönt der Ruf der Stammtische nach Strafverschärfungen, nach »Wegschließen für immer« – und willig stimmen manche Innenpolitiker in diesen Ruf ein, um in laufenden Wahlkämpfen noch ein paar Punkte zu machen.
Zum Stichtag 30. November 2010 befanden sich laut dem Statistischen Bundesamt 69.385 Gefangene, davon 3755 Frauen, in den 185 deutschen Gefängnissen. Davon waren 10.781 in Untersuchungshaft, 56.737 verbüßten eine Freiheits- oder Jugendstrafe. Mit eingerechnet sind hier 536 Personen (Stand vom März 2010) in der Sicherungsverwahrung, die offiziell nicht als Strafe gilt und dennoch zum angeblichen Schutze der Öffentlichkeit nach einer Freiheitsstrafe lebenslang vollzogen werden kann. Schließlich wurden 1868 »sonstige freiheitsentziehende Maßnahmen« wie zum Beispiel Abschiebehaft abgelehnter Asylbewerber registriert.
Auf den ersten Blick ist seit 2003 eine rückläufige Gefangenenrate festzustellen – doch entgegen der landläufigen Meinung ist dies keine Folge einer immer milderen Rechtsprechung. Denn gerade die Zahl der im geschlossenen Strafvollzug Untergebrachten in Deutschland ist, wie sich aus einer Analyse des Strafvollzugsarchivs in Bremen ergibt, keineswegs rückläufig, sondern sogar noch leicht angestiegen. Um die Hälfte verringert hat sich dagegen seit Mitte der 1990er Jahre die Zahl der Untersuchungsgefangenen, und auch der Jugendstrafvollzug und der offene Strafvollzug nehmen weiter ab. Gewandelt hat sich in den letzten Jahren zudem das Gefangenenprofil. Rückläufig sind Inhaftierungen wegen Eigentumsdelikten ohne Gewaltanwendung, während Gewalt- und Drogentäter in wachsender Zahl eingesperrt werden; etwa 17 Prozent der Haftstrafen, die gegenwärtig verbüßt werden, sind wegen Drogendelikten ergangen. Laut Statistik des Strafvollzugsarchivs ist zudem die Zahl der im Maßregelvollzug in Psychiatrischen Krankenhäusern oder Entziehungsanstalten Untergebrachten seit 2003 kontinuierlich um rund 20 Prozent auf 9251 (Stand vom März 2010) gestiegen. Rechnet man sie mit, kann von einem Rückgang der Gefangenenzahlen keine Rede mehr sein.
»Zuckerguß für den Kindermörder. Was zunächst so unglaublich klingen mag, scheint in deutschen Haftanstalten durchaus üblich zu sein.« So suggerierte im Sommer letzten Jahres das Springerblatt Bild, Strafvollzug sei eine Art Erholungsurlaub. »Da gibt es Yoga, Theatergruppen oder Konzerte, bei denen sich die Gefangenen entspannen können – natürlich immer nur, wenn gewünscht.« Nun sind entgegen einer weitverbreiteten Meinung Häftlinge nicht dazu verurteilt, ihre Zeit in Gefangenschaft unter menschenunwürdigen Zuständen zu verbringen. Verbunden mit der fehlenden Freizügigkeit ist schon die Unmöglichkeit von Ehe- und Familienleben während der Haftzeit eine der schwersten Einschränkungen für die Gefangenen. Die Haftbedingungen für die Masse der Straf- und Untersuchungsgefangenen sowie der Sicherungsverwahrten sind ganz andere als von Bild und den Stammtischen vermutet.
Eine acht bis zehneinhalb Quadratmeter große Zelle, darin Toilette, Waschbecken, Tisch, Bett, Schrank und Stuhl und ein über Kopfhöhe angebrachtes kleines vergittertes Fenster – so sieht ein moderner Haftraum im Idealfall aus. Wer Fernseh- oder Radiogeräte will, darf sie nicht mitbringen, sondern muß sie oft überteuert bei der Justizvollzugsanstalt (JVA) kaufen oder mieten.
Eine Einzelzelle ist längst nicht für alle Gefangenen garantiert. Denn die zum Teil aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gebäude platzen aus allen Nähten. Viele Zellen sind völlig überbelegt. Weiterhin ist rund ein Drittel aller Gefangenen in Gemeinschaftszellen untergebracht – manchmal sogar ohne abgetrennte Toiletten. Die Mehrfachbelegung zwingt auch gegensätzliche Persönlichkeiten zum Zusammenleben auf engstem Raum, die sich so den Knastalltag zur Hölle machen. Gerade hier besteht die Gefahr, daß Gefangene während der langen Einschlußzeiten von ihren Mitgefangenen gemobbt, erpreßt, sexuell mißbraucht oder körperlich mißhandelt werden – bis hin zu Folter- und Mordexzessen wie im nordrhein-westfälischen Siegburg oder im thüringischen Ichtershausen. Immer öfter dringen Meldungen über Schlägereien, Messerstechereien und Drogentote in Vollzugsanstalten an die Öffentlichkeit. Überbelegung und eine unzureichende Personalquote verhindern ein rechtzeitiges Eingreifen des Personals zum Schutz der Betroffenen.
Ich erhalte jede Woche zahlreiche Briefe von Gefangenen, die ihr Recht nutzen, mir als Abgeordneter unzensiert und unkontrolliert von der Gefängnisleitung zu schreiben. Aber obwohl sie dieses Recht – in der Theorie – haben, kommt es immer wieder vor, daß JVA-Bedienstete meine Briefe trotz deutlicher Kennzeichnung als Abgeordnetenpost öffnen und wohl auch lesen. Als »bedauerliche Versehen« entschuldigen die Anstaltsleiter regelmäßig solche unzulässigen Eingriffe, wenn ich mich beschwere.
Entgegen einer landläufigen Meinung wollen mich die Gefangenen, die mir schreiben, nicht von ihrer Unschuld überzeugen. Es geht ihnen meist nicht um die sofortige Freiheit, sondern um ihre Rechte hinter Gittern. Geklagt wird über die Ausbeutung bei der Arbeit zu Billiglöhnen – aber Klagen betreffen auch den Verlust dieser Arbeitsplätze als einziger Möglichkeit, überhaupt etwas Geld für privaten Konsum zu verdienen. Immer wieder beschweren sich Gefangene über willkürliche Eingriffe in ihr weniges Eigentum. Einem Gefangenen in der JVA Bruchsal wird angeblich aus Hygienegründen der Kaffeevorrat weggeschüttet, einem anderen im gleichen Knast wurde angeblich aus Gründen der öffentlichen Ordnung untersagt, ein Bild der Sozialistin Rosa Luxemburg in seine Zelle zu hängen. Gefangene aus der teilprivatisierten JVA Burg in Sachsen-Anhalt beklagen sich über Wucherpreise für Waren, die sie nur von privaten Monopolanbietern beziehen können. Gefangene, die neu in diese Anstalt verlegt wurden, durften nicht einmal ihre eigenen elektrischen Geräte aus der vorigen JVA mitnehmen, sondern wurden gezwungen, sich teure neue anzuschaffen. Gerade Gefangene aus Burg beklagen zudem, daß sie keine Gesetzestexte zur Verfügung haben und ihnen teilweise sogar der Besitz solcher Texte ausdrücklich verwehrt wird. Offensichtlich sollen die Gefangenen so daran gehindert werden, ihre Rechte einzuklagen. Denn bürgerschaftliches Engagement und Eigenaktivität sind im Knast nicht erwünscht. Häufige Eingaben, Dienstaufsichtsbeschwerden oder Anzeigen werden in allen Knästen mit willkürlichem Arbeitsverbot, Einkaufs- und Freizeitsperre geahndet. Willkür der JVA-Leitungen und des Personals bekommen vor allem solche Gefangenen zu spüren, die sich nicht nur für ihre eigenen Rechte, sondern auch für die ihrer Mitgefangenen einsetzen. Ein solches Engagement wird in der Regel nicht als positive Sozialprognose im Sinne einer Resozialisierung gewertet, sondern im Gegenteil als Uneinsichtigkeit und Querulantentum. »Obwohl ich mir im Vollzug absolut nichts habe zuschulden kommen lassen, vertritt der Richter die Auffassung, ich solle mich erst mal noch geraume Zeit im offenen Vollzug beanstandungsfrei verhalten. Das heißt im Rückschluß nichts anderes als das: Wer sein Klage- und Beschwerderecht in Anspruch nimmt, der/die verhält sich nicht beanstandungsfrei«, schreibt mir ein wegen Bankraubes Inhaftierter, dessen Hoffnung auf Haftentlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftzeit sich zerschlagen hatte. Der Grund der negativen Entscheidung war offensichtlich das Engagement des Gefangenen in der »Interessenvertretung Inhaftierter«.
Das Strafvollzugsgesetz von 1976 forderte noch, das Leben in Haft »den allgemeinen Lebensbedingungen so weit als möglich« anzugleichen und die Gefangenen während des Strafvollzugs zu befähigen, »künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen«. In der Praxis setzte sich freilich auch im Strafvollzug ein Sparkurs durch, dem der Resozialisierungsgedanke zugunsten dem reinen Sicherungsaspekt geopfert wurde. Populistische Kampagnen begleiteten den Paradigmenwechsel von der Resozialisierung zur Strafverschärfung. Mit der Föderalismusreform von 2006 wurde das Gesetz von 1976 außer Dienst gestellt und die Zuständigkeit für den Strafvollzug den Ländern übertragen. Zwar hat der von Fachleuten befürchtete »Wettlauf der Schäbigkeit« in der Gesetzgebung bislang nicht stattgefunden. Doch der Trend weg von der Resozialisierung hält an: 90 Prozent der Gelder im Strafvollzug werden für das Wegsperren verwendet, nur rund acht Prozent dienen der Resozialisierung. Von 27.000 Beschäftigten im Strafvollzug sind nur rund 1500 als Sozialpädagogen oder Therapeuten tätig. Weniger als zehn Prozent der Gefangenen haben die Chance auf einen Therapieplatz. Und eine Sozialtherapie sollte nicht auf Sexualtäter beschränkt werden, sondern auch anderen offen stehen.
»Der Strafgefangene muß resozialisiert werden. So will es die Verfassung. Doch Recht und Realität stehen in einem ähnlich verzwickten Verhältnis zueinander wie Recht und Gerechtigkeit. Und der Begriff Resozialisierung beschreibt den Knastalltag so realistisch wie die Fünfjahrespläne die wirtschaftliche Prosperität der Deutschen Demokratischen Republik.« Zu diesem Ergebnis kommt Kai Schlieter in seinem Buch »Knastreport: Das Leben der Weggesperrten«. Nur rund 30 Prozent der Jugendlichen in Haft erhalten eine entsprechende therapeutische oder pädagogische Betreuung. Entsprechend hoch ist die Rückfallquote. Drei von vier aus dem Jugendstrafvollzug Entlassenen werden innerhalb von zwei Jahren rückfällig. Dort aber, wo in mehr und qualifizierteres Personal investiert wurde, sind nachhaltige Erfolge zu verzeichnen. Doch das ist vielen Innenpolitikern zu teuer und den Stammtischen zu schwer zu verkaufen.
Haftlockerungen wie offener Vollzug, unbegleiteter Ausgang oder gar eine vorzeitige Haftentlassung aufgrund einer positiven Sozialprognose können das Wiedereinleben in der Gesellschaft erleichtern, werden aber angesichts medialer Hetz- und Angstkampagnen immer seltener genehmigt. Die Angst bei Justizverwaltung, Psychologen und Mitarbeitern, für mögliche Rückfälle der Entlassenen verantwortlich gemacht zu werden, ist erheblich gestiegen. In der Konsequenz heißt es, daß es sicherer – auch für die eigene Karriere – ist, Gefangene so lange und so fest wie möglich einzusperren. »Gefangene werden ausschließlich als Risikoträger gesehen: Person und Tat werden gleichgesetzt … Dieser Mensch ist nichts mehr außer seinem Delikt, er ist ein wandelndes Risiko … Das heute, die Gegenwart wird mit dem Damals, der Vergangenheit verwechselt. Die Vergangenheit – seine Delikte – tragen den Sieg über die Gegenwart davon. Und wenn man ihm unterstellt, er werde mit hoher Wahrscheinlichkeit rückfällig, dann gibt es für den Gefangenen auch keine Zukunft«, beklagt der Kriminalist und Psychotherapeut Michael Stiels-Glenn in einem Beitrag für die Zeitschrift der Berliner JVA Tegel, der lichtblick.
Konservative, aber auch sozialdemokratische Politiker weichen vor der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zurück oder nutzen diese sogar, um politisches Kapital für die nächste Wahl daraus zu schlagen. Das Grundrecht der Gefangenen auf Resozialisierung wird damit dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Sicherheit gegenübergestellt – und damit fallen gelassen. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Scheinsicherheit. Heribert Prantl hat in der Süddeutschen Zeitung einmal deutlich gemacht: »Es gilt das Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist kurzsichtig, weil bloßes Einsperren gar nichts löst: Gefangene bleiben nicht ewig Gefangene. Morgen sind sie wieder Nachbarn – nicht alle, nicht die Schwerkriminellen, aber die meisten.« Nicht nur die Gefangenen haben ein Recht auf Resozialisierung, auch die Gesellschaft hat ein Recht auf resozialisierte ehemalige Straffällige als beste Garantie gegen ein Rückfälligwerden.
Eine Gesellschaft ohne Knäste – das war einmal eine Utopie der radikalen Linken und auch der frühen Grünen. Heute dagegen scheint das Thema Knast kaum noch eine Rolle innerhalb der Linken zu spielen, wenn es ihr nicht der politische Gegner aufzwingt. Auch innerhalb der Linkspartei höre ich oft Ermahnungen, nicht mit den »Schmuddelkindern« zu spielen. Man ignoriert Hilferufe aus den Knästen und quittiert den Wunsch nach politischem Engagement von Gefangenen mit Hilflosigkeit. Oder man verweist gleich auf eine Bestimmung im Partei- und Strafvollzugsgesetz, die es Gefangenen ab einem Jahr Haft verbietet, Mitglied einer Partei zu sein. Zum Glück lassen sich eine Reihe von Gefangenen nicht abschrecken. Hier und da sind schon linke Knastgruppen entstanden, die Unterstützung verdienen. Strafgefangene müssen mit den Worten des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann als »Staatsbürger hinter Gittern« verstanden werden – mit allen Rechten außer der Freizügigkeit, dafür aber mit dem verfassungsmäßig verbürgten Recht auf Resozialisierung.