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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Meine Spaziergänge führten mich auch wieder einmal in kleinere Theater, zum Beispiel zu einer Gruppe von Studenten der Hochschule für Schauspielkunst (HfS) »Ernst Busch« mit Shakespeares »Troilus und Cressida«. Inszeniert hatte Veit Schubert, die Bühne richtete Stephan Fernau.

Es ist schon richtig, künftige Schauspieler an guten Stücken lernen zu lassen. Aber ausgerechnet gleich an »Troilus und Cressida«, einem der schwersten? Personen wie Pandarus und Thersites darzustellen, war eine allzu schwere Aufgabe. Da blieben die jungen Spieler stecken, vor allem Maria Thomas als Thersites, die zudem auch die Cassandra spielen sollte – damit war sie überfordert. Bemerkenswert an diesem Projekt war die Zusammenarbeit mit Technik Bayer Kulturhaus, einer kulturellen Institution des Leverkusener Chemiekonzerns. Die Produktion wurde in deren Kultursaal wie im Berliner BAT-Studiotheater der HfS gezeigt. Die Zusammenarbeit ist auf längere Zeit geplant.

»Die Schicksalssinfonie« – so wird Beethovens 5. Sinfonie in c-moll op.67 genannt. Nun gibt sie den Namen für einen ernsten Ulk, für den Protest eines Sinfonie-Orchesters einer kleinen Mittelstadt in Thüringen, in Rudolstadt, jetzt zu Gast im Berliner Maxim-Gorki-Theater. Die Orchestermitglieder spielen Probe, und sie spielen ihren Widerstand gegen eine drohende Schließung. Das ist Geschehen pur und zugleich ein Theaterstück mit Orchester von Steffen Mensching und Michael Kiefer.

Mensching war schon immer gut für Satire, machte sich unbeliebt bei Herrschenden und beliebt bei kritischem Publikum. Er beherrscht die Palette der komischen Mittel. Aus vielen alten Säulen und Mauern entsteht ein neuer Tempel. Und ein Widerstandsstück, ein notwendiges. Denn wir leben in einer Zeit, in der ein Land – noch dazu ein reiches – begonnen hat, seine Kultur aufzugeben. Ein Bravo für das Orchester, das sich gegen seine Auflösung wehrt: mit Geigen, Pauken und Trompeten.

Weil es für mich mit der Straßenbahn so einfach ist, fuhr ich früher so gern ins Maxim-Gorki-Theater. Nun hat es leider erneut ganz grob verhauen: Mußte man Flauberts Riesen-Epos von Frauen und Ehe, Erniedrigung und Aufbegehren mit tödlichem Ende dramatisieren?

Gattungen haben ihre Gesetze, und nur selten sind dramatische Umformungen gelungen, manche noch eher im Film. Diese von Tine Rahel Völcker und hergestellte und von Nora Schlocker inszenierte Fassung ist eine kleine Katastrophe des guten, im konkreten Falle feministischen Willens. »Die guten Leute und schlechten Musikanten« spotteten schon die sonst feindlichen Brüder Clemens Brentano in »Ponce de Leon« und Heinrich Heine in »Ideen. Das Buch Le Grand«. Mir tat Julischka Eichel als Nora leid. Sie versucht fast alles an dieser vielschichtigen Figur und bekommt nichts zurück – das Publikum auch nicht. Für einen kurzen Lichtblick sorgt Alexander Fehling, aber auch er läßt sich vom schlechten Malstrom dieser Textfassung und Fabelführung treiben. Schade! Die ganze übrige Männerwelt – nur Klischees. – Dreieinhalb Stunden versessen! Muß, darf Theater so unfroh sein?

Vom Sich-Wehren handelt auch ein ehrlicher Abend im Theater im 12. Stock (auch Zimmertheater Kultschule). Früher war es bekannt als Zimmertheater Karlshorst. Die Crew mußte ihr altes Quartier aufgeben und spielt jetzt in der Sewanstraße 43 in Berlin-Friedrichsfelde, in der sogenannten Kultschule. Das Ensemble hat sein Programm aus Karlshorst mitgenommen: freche Berlin-Abende ebenso wie Dichter-Abende (Tucholsky, Kästner, Rudi Strahl, Eva Strittmatter). Zum Auftakt im neuen Quartier gab es einen Abend mit Peter Sodann. Er las aus seinen Erinnerungen »Keine halben Sachen« und anderen Büchern.

Zurück nach Berlin-Mitte ins Berliner Ensemble, wo Claus Peymann wieder einen seiner Lieblingsautoren inszenierte, den österreichischen Grantler Thomas Bernhard mit »Einfach kompliziert«. Dazu holte er sich einen seiner Lieblingsschauspieler: Gert Voss, den er einst ans Burgtheater geholt hatte und der nun als Gast wieder einmal nach Berlin kam. Das Stück hatte Bernhard vor einem Vierteljahrhundert für seinen Lieblingsschauspieler Bernhard Minetti zu dessen 80. Geburtstag verfaßt, der es dann auch spielte. Nun also Voss. Man konnte einen theatralischen Festschmaus, eine grandiose Schmäh erwarten. So viele Lieblinge und dann: nicht mehr als ein gutbürgerliches Mittagsmahl. Wie das?

Im ersten Teil kommt der ganze Kleinbürgermief mit zu Tode zitiertem Schopenhauer, neu aufgekocht wieder hoch – und so lange ist es ein schlechtes Stück. Das alles kennt man aus etlichen, durchaus besseren Stücken des aus meiner Sicht überschätzten Wiener Autors aus Ohlsdorf ohne Klassiker-Format. Erst als sich der Text zum Künstler-, ja Schauspieler-Stück wandelt, wird es besser – und Voss ebenso: Da gewinnt er Haltungen, wälzt sich nicht mehr so oft am Boden. Das Spiel mit der Papp-Krone, die eine Königs-Krone assoziieren soll, weil »Er«, der alte Schauspieler, einst Richard III. gespielt hat oder spielen wollte, gerät dann zu einem spielerischen, freilich nicht geistigen Höhepunkt. Das Zu-Geist-Werden gelingt dem vollblütigen Voss, der eigentlich sonst alles kann, fast alles, nicht so recht – das konnte Minetti, der Uralte, selbst als man sein Gemurmel kaum noch verstand, entschieden besser.

Einen Höhepunkt hat Voss als er sich am Ende das Tonband, auf dem er sich selbst abgehört, abschaltet, sich an den Tisch setzt und speist. Da kommen Erinnerungen an zwei große Theater-Finals auf: Martin Held als in sich horchender Krapp im »Letzten Band« Becketts (»Ich wünsche sie nicht zurück.« – nämlich die glücklichen Jahre) und Ernst Busch als fressender Galilei Brechts: »Wie ist die Nacht. – Hell.« Bemerkenswert das Programm-Buch der Dramaturgie des Berliner Ensembles – mit vielen Fotos und Texten fast schon eine Bernhard-Biografie.

So viel schöner Aufwand für ein bescheidenes Stück und eine Aufführung wie das bürgerliche Mittagsmahl.

Nach so lebensverachtend-genüßlicher Schaustellung mußte noch etwas Aufständisches zum Besseren sein. Ich fand den Aufstand eines anonym geborenen und dann verkauften Sklaven, eines Cimarron, wie er im kubanischen Spanisch und in der fast gleichnamigen Spiel-Kantate »El Cimarron« von Hans Werner Henze genannt wird.

Dieser Sklave hatte den Namen Esteban und erzählte, als er schon 104 Jahre alt war, 1964 einem kubanischen Autor sein Leben, es erschien als Buch. Das bekam Enzensberger in die Hände, durch ihn erfuhr Henze davon. So war dies gattungsmäßig schwer zu fassende »Recital für vier Musiker« in den späten sechziger Jahren entstanden.

Nun brachte die Berliner Staatsoper dieses famose Stück Musiktheater erneut heraus, nicht im Opernhaus Unter den Lindern, sondern in der kleinen Werkstatt des Schillertheaters mit einem kleinen Ensemble namens Quillo (Ursula Weiler, Daniel Görtz, Dominic Oelze mit dem Sänger-Schauspieler Hubert Wild). Die inszenatorische Leitung lag bei drei Frauen (Sophia Simitzis, Inga Timm und Irene Selka), und das hat einen durchaus revolutionären Gestus. Da geht es ziemlich robust zu: Klangmischungen aus afrikanischer, lateinamerikanischer und europäischer Musik mit viel Trommelei, und das alles in Henzes Handschrift.

Der Sänger Wild, der zunächst einen Eindruck bürgerlicher Sänger-Karriere macht, entfaltet sich großartig. Da kommt mal wieder ein revolutionärer Atem von der Bühne. Man denkt an Ruth Berghaus und ihre revolutionären Inszenierungen. Es wurde Zeit dafür.