Ich erinnere mich genau: 4. Mai 1982. Ich saß gegen Abend vor meinem Kurzwellen-Empfänger und hörte die BBC-Sondermeldung: »Ihrer Majestät Schiff ›Sheffield‹ ging ...« – der Sprecher verhielt und schluckte hörbar – »heute verloren.«
Auf einmal war Krieg in unserem Südamerika, zum ersten Mal seit 50 Jahren. Kein jahrelanger, blutiger Hahnenkampf um fiktive Erdölfelder zwischen Nachbarn wie im längst vergessenen Chaco-Krieg zwischen Paraguay und Bolivien (1932–1935), sondern eine unerwartete, anachronistische Keilerei. Auf der einen Seite die auf NATO-Standard getrimmte, US-gestützte Nuklearmacht Groß-britannien, auf der anderen die uniformierten Schnurrbärte der damaligen Militärdiktatur Argentinien. Ein kurzer, ungleicher Kampf um Restposten britischen Überseebesitzes. Er dauerte vom 2. April bis 14. Juni 1982 und kostete 910 Menschenleben. Jetzt jährt er sich zum dreißigsten Mal.
Es ging um drei Inselgruppen im Südatlantik: die Südgeorgien-Insel (South Georgia Island), die Südlichen Sandwichinseln (South Sandwich Islands) und die Malwinen (Falkland Islands). Letztere rund 400 Kilometer querab Feuerland (Argentinien). Alle in britischem Besitz. Alle nach kolonialistischer, also eigenmächtiger Aneignung im 19. Jahrhundert von den Malwinen aus verwaltet. Nur auf diesen lebt eine bodenständige Bevölkerung von 3.100 Menschen.
Seit dem 17. Jahrhundert sind die Malwinen den europäischen Mächten bekannt. Aber auch Amerigo Vespucci, Fernão Magalhães und andere sollen sie schon vorher gesichtet haben, jetzt betrachten sich an erster Stelle die Briten als ihre Entdecker. Viele Korsaren, Walfänger und Kauffahrer hatten ja schon mal bei schwerem Wetter oder aus Raubgier in den kalten, verregneten Buchten geankert, um jedoch baldmöglichst wieder zu verschwinden.
Nach dem verlorenen Siebenjährigen Krieg (1756–1763) beabsichtigte Frankreich, aus Kanada vertriebene Landsleute auf den Malwinen unterzubringen. Paris erfaßte den strategischen Wert eines eigenen, insularen Stützpunktes auf dem vielbefahrenen Seeweg zum Pazifik und zu den Wal- und Robbengründen des Südatlantiks. Der französische Weltumsegler Louis-Antoine de Bougainville gründete deshalb die »Compagnie Saint-Malo«, die 1764 die ersten 27 Franzosen anlieferte und die Inseln für Frankreich reklamierte. Schon drei Jahre später trat sie sie an Spanien ab. Frankreich akzeptierte die augenfällige Zugehörigkeit der Inseln zum nahen, damals noch spanischen Kontinent. Dem Heimathafen der Franzosen, Saint-Malo, entstammt übrigens der Name »Îles Malouines«, den die folgende, spanische Herrschaft als »Islas Malvinas« weiterführte.
1828 gelang dem gegenüberliegenden Festland, dem seit 1816 von Spanien unabhängigen »Vizekönigreich des Rio de la Plata« (späterhin Argentinien), ein bleibendes Besiedlungsunternehmen. Parlamentarisch abgesegnet, bürokratisch verbrieft und damit grundverschieden von der damals üblichen kolonialistischen Landnahme (Anlanden, »ich nehme in Besitz« rufen, Fahne aufziehen, dreimal Bumm-Bumm und Ablegen). Der rührige Hamburger Hugenotte Louis Vernet, in jenen Tagen Unternehmer und Bürger von Buenos Aires, erhielt eine argentinische Vollmacht zur Erschließung und Nutzung der Malwinen, die er unter legendären Strapazen zustande brachte. Er schaffte Rinder und Schafe auf die Inseln, vor allem aber abgehärtete Gauchos, denen zuweilen die Pferde unterm Sattel erfroren. 1829 wurde Vernet zum Gouverneur der Malwinen ernannt.
Doch 1833, als er gerade mal in Buenos Aires zu tun hat, erklärt sich die Regierung Seiner britischen Majestät William IV ganz nonchalant zum Besitzer der Eilande und der dort geschaffenen Infrastruktur. Schottische und englische Einwanderer treffen ein, auch einige Deutsche und Skandinavier. Die französischen und hispanischen Einwohner machen ab 1860 gerade noch 30 Prozent aus und vermischen sich allmählich mit den Neuankömmlingen.
Buenos Aires protestierte gegenüber der unbestrittenen Weltmacht des 19. Jahrhunderts. Und seither blieb es in Argentinien immer bei Protesten und jener etwas kopflosen, ohnmächtigen Erbitterung, die auch seiner Kriegsführung von 1982 und der gegenwärtigen Haltung gegenüber England anzumerken ist. Im kleinsten argentinischen Weiler verkünden große Tafeln, was alle längst wissen: Las Malvinas son argentinas (die Malwinen sind argentinisch).
Ebenso wie der Affenfelsen von Gibraltar gelten die Malwinen bis dato als britisches Überseegebiet. Die Regierung Cameron lehnt jede Verhandlung über die argentinischen Ansprüche ab, solange die ortsansässige Bevölkerung nicht gegen ihre Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich votiert. Und das wird sie nicht; Cameron weiß es. Die Falkländer stammen aus Nordengland und Schottland; nichts verbindet sie mit der lateinamerikanischen Kultur des Festlands. Ihre Nationalhymne ist »God save the Queen«.
Auch die ultra-liberalistische britische Regierungschefin Margret Thatcher (Amtszeit 1979–1990) wußte das. Sie hatte um 1981 die soziale Demontage und die Privatisierung des britischen Volkseigentums soweit getrieben, daß sie ihre Wiederwahl davonschwimmen sah (Zustimmungsrate 28 Prozent, Arbeitslosigkeit über 13 Prozent). Ein medienwirksames, möglichst patriotisches Ereignis mußte her und hochgespielt werden: die spektakuläre, kompromißlose Verteidigung der Falkländer gegen böse argentinische Begehrlichkeiten.
Ein sehr opportuner, nie völlig geklärter Zufall kam ihr da gerade recht: die sogenannte Davidoff-Affäre vom 19. März 1982 – für Buenos Aires der eigentliche Kriegsbeginn. Der argentinische Schrotthändler Davidoff hatte im Einvernehmen mit der britischen Botschaft in Buenos Aires 41 Arbeiter auf der Südgeorgien-Insel angelandet. Alte, verfallene Walfangbasen sollten abgebaut werden. Angeblich wurde dabei ein Frachter der argentinischen Marine benutzt und die blauweiße argentinische Fahne gehißt, was einerseits zum angestauten argentinischen Ingrimm passen würde, andererseits als Invasion britischen Territoriums hingestellt werden konnte. Eine erste Konfrontation von Hubschraubern und die (irrtümliche) BBC-Nachricht vom Auslaufen britischer Nuklear-U-Boote aus Gibraltar brachten die ohnehin gereizten Gemüter der Junta in Buenos Aires zum Kochen. Wie in Uruguay, Chile und Brasilien regte sich nämlich auch in Argentinien zunehmender Widerstand gegen den beispiellosen Staatsterror der Militärregierung, der mindestens 30.000 Menschenleben gefordert hatte. Auch hier mußte nun patriotischer Aktivismus mobilisiert werden. Konzeptlos und bar jeder politischen Perspektive sandten die Generäle U-Boote und ein paar Landungstruppen nach Südgeorgien. Und am 2. April besetzten sie die Malwinen.
Thatcher hatte ihren casus belli, gewann ihren Krieg mit Ach und Krach dank US-amerikanischer Aufklärungs- und Spionageassistenz und wurde 1983 wiedergewählt – zum Preis von 258 britischen, drei falkländischen und 649 argentinischen Toten nebst 1,19 Milliarden Dollar Kriegskosten allein auf britischer Seite. Die hohe argentinische Verlustrate ist Resultat der Torpedierung des Kreuzers »General Belgrano«, der mit 323 Mann unterging. Er wurde übrigens außerhalb der von der englischen Admiralität festgelegten Sperrzone angegriffen und versenkt – right or wrong, my country.
Und der Krieg tat Thatcher einen weiteren Gefallen. Er übertünchte einen Skandal von seltener Güte: Verschwiegen und vergessen ist nämlich, daß die »eiserne Lady« noch 1980 entschlossen gewesen war, die kostspieligen malwinischen Untertanen Ihrer Majestät der weltweit verhaßten argentinischen Junta zu überlassen. Der neoliberale Commonwealth-Minister Nicholas Ridley sollte Thatchers Plan den Falkländern mundgerecht machen: Die Inseln sollten unter argentinischer Souveränität anfangs noch ihre britische Verwaltung behalten, die erst späterhin von Buenos Aires übernommen werden sollte. Thatcher erhoffte sich dafür sogar eine Entschädigung von Argentinien. Die Insulaner waren empört, die Argentinier beleidigt. Die einen wollten sich nicht verkaufen lassen, die anderen nicht kaufen, was ihnen ohnehin gehörte.
Vergeben, aber nicht vergessen seitens der Falkländer. Sie leben weiterhin hauptsächlich von Schafzucht, Fischerei und der finanziellen und technischen Unterstützung durch das »Mutterland« (etwa 500 Millionen Pfund pro Jahr einschließlich Militärausgaben). Dazu gehört zum Beispiel auch der kostenlose Transport zur Blinddarmoperation im fernen Chile. Die »kelpers« (in Anspielung auf kelp, den wuchernden Seetang ihrer Küste) teilen heute ihr ehemals beschauliches Dasein mit etwa 2.000 Soldaten der inzwischen entstandenen Festung Falkland. Mit gemischten Gefühlen. Sie sind zwar britische Untertanen, fühlen sich aber weder als Briten noch als Europäer. Der Krieg und die Kriegsfolgen haben ihnen den enormen Unterschied zu England deutlich gemacht: die langjährige demographische, wirtschaftliche und soziale Stagnation und den unübersehbaren Reformbedarf. Andererseits sehen sich die Falkländer optimistisch als zukünftige Nutznießer ihrer natürlichen Ressourcen. Die Ölvorräte vor ihrer Küste werden auf 40 Milliarden Barrel geschätzt; anglo-amerikanische Firmen (Desire Petroleum, Falkland Oil and Gas, Rockhopper, Borders & Southern) bohren schon. Neue, anspruchsvollere Arbeitsplätze entstehen; die Beziehungen zur nördlichen Halbkugel sind intensiver als je zuvor.
Die separatistischen Töne aus Schottland und Wales haben erste Überlegungen zu einem eigenständigen Status der Inseln beschleunigt. Schon 1989 konzedierte London eine neue Falkland-Verfassung mit einer achtköpfigen Gesetzgebenden Versammlung (Legislative Assembly), die zwar zusammen mit dem britischen Gouverneur regiert, aber nicht über Steuern und Finanzen bestimmen darf. Mike Summers, hochdekoriertes Ratsmitglied, faßt zusammen: »Auf Falkland existiert eine Dynamik hin zur eigenen, nationalen Identität. Sie stützt sich auf eine Verständigung mit Argentinien ... Wir sind ein Volk, genau wie Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile und andere Nationen, die von europäischen oder afrikanischen Einwanderern abstammen.« Die britische Tageszeitung The Guardian konstatiert eine »Ethnogenese, die keineswegs anders ist als die anderer typischer Einwanderungsländer Amerikas, Australiens oder Neuseelands, faktisch nicht verschieden von den benachbarten südamerikanischen Nationen«.
Wie soll es weitergehen, wen kümmern wirklich die Menschen auf den Malwinen? Für Premierminister Cameron sind sie eben nur Bauern im geostrategischen Schach. Zynisch wirft er ausgerechnet Argentinien »Kolonialismus« vor. Er lehnt die wiederholte Aufforderung der UNO zu Verhandlungen ab und militarisiert provokant die Region mittels Entsendung eines Zerstörers, dessen Raketenbestückung laut offizieller Presseerklärung »alle südamerikanischen Luftstreitkräfte vernichten« kann, eines Atom-U-Bootes mit Nuklearwaffen und eines prinzlichen Piloten aus dem Hause Windsor. Die Kommunistische Partei Argentiniens erkennt darin den Versuch Großbritanniens und der NATO, eine Militärbasis zu etablieren, die ihrem expansiven, aggressiven Kurs im Nahen und Mittleren Osten und gegenüber Rußland entspricht.
Die 33 Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) haben sich im Dezember 2011 für Argentiniens Souveränität über die Inseln ausgesprochen. Fidel Castro Ruz bestätigte am 12. Februar dem Vereinigten Königreich: »Es gibt keine andere Option als den Rückzug von den Malwinen«; der chilenische Diktator Pinochet, der den Engländern im Krieg gegen Argentinien geholfen habe, sei nicht mehr da. Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner milderte mittlerweile das Landeverbot für Flüge von und nach den Malwinen, und in den argentinischen Häfen dürfen britische Schiffe wieder anlegen. Argentinische Intellektuelle bemühen sich um Verständnis für die Lage der malwinischen Bevölkerung. Ein erster Falkländer, der Maler James Peck, ist nach Argentinien umgezogen; er erhielt einen Ausweis und erklärte: »Ich bleibe.«
Selbst die USA stellten sich überraschend hinter Argentiniens Forderung nach Verhandlungen. Im Juni 2011 unterzeichneten sie – zusammen mit den sozialistischen Präsidenten Hugo Chavez Frias (Venezuela) und Daniel Ortega Saavedra (Nikaragua) – eine Erklärung der (US-hörigen) Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zugunsten der argentinischen Position. Davon ist allerdings nicht viel zu halten, denn Washington und London sind sich über ihre weltweiten Ziele einig. Und zu diesen gehört die Antarktis, die nicht nur von Australien und Neuseeland, sondern auch von den Malwinen, von der Südgeorgien-Insel und den Südlichen Sandwichinseln aus bestens kontrolliert werden kann.
Der 1959 von zwölf Staaten geschlossene Antarktisvertrag und seine vier Folgeabkommen sehen für die Antarktis eine ausschließlich friedliche, wissenschaftliche und umweltschonende Nutzung vor. Eine 1989 angestrebte Einigung über die Bodenschätze der Region kam aber nicht zustande. 20 Nationen forschen heute in 90 Antarktis-Stationen mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Absichten. Darunter die südamerikanischen Nachbarn, Indien und auch die Bundesrepublik Deutschland. Die Volksrepublik China unterhält drei Stationen, davon eine der wenigen im Zentrum des Kontinents, Kunlun, auf 4.087 Meter Höhe.
Man rechnet mit etwa sechs Milliarden Tonnen Erdöl und 115 Billionen Kubikmeter Gas – etwa die Hälfte der noch nicht erschlossenen Reserven der Erde. Weiterhin mit Uran, Kohle, Kupfer, Chrom, Titan, Platin und Gold. 2007 erneuerte Großbritannien seine Gebietsansprüche von 1908 auf den antarktischen Kontinent und dessen Festlandsockel. Es geht um eine Million Quadratkilometer, einschließlich der Südgeorgien- und Südlichen Sandwichinseln sowie der Malwinen.
»Eiskalter Imperialismus«, urteilte selbst ein britischer Geograph, Klaus Dodds von der University of London.