Auf sehr direkte Nachfrage hat Egon Bahr mir unlängst bestätigt, daß er die monatelangen Verhandlungen in Moskau Anfang der 1970er Jahre weitgehend autonom geführt hat – Willy Brandt hatte ihm vertrauensvoll freie Hand gelassen. Richtschnur war Brandts Überzeugung: »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.« Insofern handelte er im aphoristisch formulierten Auftrag, aber die konkrete Methodik war die seine, Strategie und Taktik lagen bei ihm. Kurzfristig ging es um die Deeskalation der Spannungen zwischen hochgerüsteten Systemen durch vertrauensbildenden Gespräche und Verträge, langfristig hatte er die sogenannte deutsche Frage, deren Antwort nur die Einheit sein konnte, immer im Blick.
Nun ist Egon Bahr 90 Jahre geworden und alle großen Medien haben verdientermaßen gewürdigt, daß »Tricky-Egon« seine Ziele erreicht hat. Wenn einer an den realisierten Standards dieser beeindruckenden Lebensbilanz Abstriche macht, dann ist es der Jubilar selbst. Er ist mit kritischen Vorträgen, Interviews, Texten, ja Büchern in einer Weise präsent und aktiv, die die meisten Jungen in den Schatten stellt. (Und auch die meisten älteren Männer können nicht mithalten, wenn Egon Bahr mit 89 noch einmal geheiratet hat.) Der jugendliche Elan zeigt sich auch darin, daß Rückblicke zwar bereitwillig unternommen werden, aber die eigentliche Leidenschaft gilt nach wie vor dem Blick nach vorn, den unerledigten Themen. Immer noch bahnt der einstige Geheimdiplomat auf inoffi-ziellen Kanälen Kontakte an, da er die innere Einheit zwischen Ost und West für alles andere als vollendet hält.
Der von ihm mitbegründete Willy-Brandt-Kreis (www.brandt-kreis.de) ist seit nunmehr 15 Jahren wohl die einzige Begegnungsstätte, die lockere Gespräche zwischen Sozialdemokraten, parteilos vagabundierenden Linksintellektuellen und Linken ermöglicht. Daß Annäherung wandelt, trifft ja nicht nur auf Systeme zu, sondern auch auf Personen. Egon Bahr ist in den letzten 40 Jahren so vielen Osteuropäern begegnet, daß er nicht nur eine sensible Einfühlung entwickelt hat, sondern auch eine Affinität zu bestimmten Denk- und Gefühlswelten, zu einer anderen Art von Nähe und Gastlichkeit. Heute sind im privaten Freundeskreis des Ehepaars Bahr die Ostdeutschen in der Mehrzahl. Auch Russen und Polen sind ständige Besucher. Da er ihnen zuhört und das Erfahrene mit der ihm eigenen analytischen Schärfe einordnet, weiß er um die Defizite seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus, den er als einer der Hauptbeteiligten herbeiverhandelte. Von Anfang an kritisierte er vernehmlich die Modalitäten des überstürzten Einigungsvertrages, dessen 1.000 Seiten auch nur zur Kenntnis zu nehmen den Parlamentariern gar nicht möglich war. Er verwahrte sich gegen die Ungerechtigkeiten bei der Verteilung des Eigentums oder die völkerrechtswidrige Militarisierung der Außenpolitik mit Angriffskriegen wie gegen Jugoslawien. Die Osterweiterung der NATO hält er für einen Jahrhundertfehler.
So war ich dankbar, daß sich Egon Bahr und Friedrich Schorlemmer im Brandt-Kreis für meine Anregung stark gemacht haben, das vom Bundestag beschlossene »sichtbare Zeichen gegen Vertreibung« zu modifizieren. Entgegen den Intentionen des Parlaments läuft dieses immer noch umstrittene Vorhaben Gefahr, nicht nur in Polen und Tschechien als Instrument der Anklage verstanden zu werden. Geht es hier wirklich nur um das Recht auf eine Klagemauer, um Verständnis und Versöhnung, oder geht es um die Zuweisung von Schuld und Unrecht in Richtung Osteuropa, mit dem Ziel einer Bewußtseinsverschiebung, die schließlich auch eine Eigentumsverschiebung ermöglichen wird? Vertreibung, so hieß es in einem Aufruf des Kreises, ist eine von vielen entsetzlichen Kriegsfolgen. Verurteilt man aber die Folge und nicht die Ursache, so erweckt man die Illusion, nach Angriffskriegen könnten deren unvermeidliche Folgen vermieden werden. Wer Vertreibungen verhindern will, muß Kriege verhindern. Deshalb brauchen wir kein Zentrum gegen Vertreibung, sondern ein Zentrum gegen Krieg.
Wir sprachen mit zuständigen Politikern und schickten ein Schreiben an die Abgeordneten des Bundestages, in dem es hieß: »Es kann nicht sein, daß die umfassende Sicht auf Krieg und Frieden, auf Ursachen und Folgen für die Zukunft, dem Zentrum in Gdansk überlassen wird, während wir uns in Deutschland, von wo die Katastrophe ausging, auf unsere Leidensgeschichte konzentrieren.« Über 1.500 Bürger, darunter viele Historiker, Juristen, Theologen, Friedensforscher, Psychologen und Lehrer unterzeichneten unseren online gestellten Appell. Zumindest sind bis heute keine vollendeten Tatsachen geschaffen, das Problembewußtsein scheint geschärft. Wenn auch nicht bei Erika Steinbach und Joachim Gauck.
Womit ein weiteres leidenschaftliches Reizthema Egon Bahrs angesprochen ist. In seinem soeben erschienenen Buch »Ostwärts und nichts vergessen!« beklagt er mit Blick auf die Praktiken der Vereinigung einmal mehr: »Der wirklich große Fehler war, daß man den Eindruck erweckt hat, als ob die Stasi wichtiger gewesen wäre als der ganze Staat, die Partei und alles, was dazu gehörte, als ob es ein Stasi-Staat gewesen wäre. Und daß die Stasi-Akten benutzt worden sind, als ob es sich um Bibeltexte handelte.«
Immer wieder wies der wissende Ostpolitiker darauf hin, daß eine auf Geheimdienstakten verengte Geschichtsaufarbeitung unmöglich ist. Besonders dann, wenn die Akten der einen Seite Tabu sind und bekanntlich das aufschlußreichste Drittel des Aktenbestandes der anderen Seite vernichtet ist. Damit sei die Gerechtigkeit auf Zufälligkeit reduziert und dem Auffüllen der Leerstellen durch politisch motivierte Spekulation Tür und Tor geöffnet, so Bahr bei einem Treffen mit dem neuen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, im Brandt-Kreis. Nie zuvor hatten wir einen solchen Wutausbruch von Egon Bahr erlebt wie bei diesem Gespräch zum Thema Neufassung des Stasi-Unterlagengesetzes, von dem der Jurist Michael Kleine-Cosack wenige Tage später, am 17. November 2011, in der FAZ schrieb, das Gesetz sei eine »rechtsstaatliche Perversion«. Weil es »ein ›wertvoller‹ Beitrag zur Kultur des Denunziatorischen« sei, die »nach 1990 von der Stasi-Unterlagen-Behörde mit Hilfe von Teilen der Presse immer wieder intensiv gepflegt« wurde.
Wiederholt hat die Behörde »Personen der Zeitgeschichte« demontiert, die sich dem herrschenden Zeitgeist nicht gebeugt haben. Beim Geburtstagsfestakt für Manfred Stolpe im vergangenen Jahr hat Egon Bahr für einen Eklat gesorgt, als er die Hatz der Behörde auf diesen Politiker scharf angriff. Die prompte Behauptung der Presse, Bahr stünde mit dieser Kritik allein da, war falsch. Egon Bahr hatte von allen Rednern den meisten Beifall bekommen, zahlreiche anwesenden Gäste, darunter Ex-Bundeskanzler Schröder, haben ihm gerade dafür ihren Respekt bekundet, und im RBB ging eine Flut von zustimmenden wie auch ablehnenden Meinungen ein. Was zeigte, daß er mit seiner Forderung nach gerechter Beurteilung von DDR-Biographien einen für viele immer noch wunden Punkt getroffen hatte.
Manfred Stolpe war nicht der einzig Bedrängte, dem Egon Bahr eine Solidarität erwiesen hat, die ihresgleichen sucht. Auch mir hat er einst aus großer Verlegenheit geholfen, als Rita Süssmuth am Vorabend der Verleihung der Luise-Schröder-Medaille ihre lange zugesagte Laudatio absagte, weil ihre Parteizentrale Anstoß an einzelnen Thesen meiner Bücher genommen hatte. Über Nacht schrieb Egon Bahr eine Rede, die ich mir besser nicht hätte wünschen können. Dieser Mann wird gebraucht, von bedrängten Einzelnen genauso wie von der bedrohten Allgemeinheit. Möge das Geheimnis des Jungbrunnens dieses fabelhaft unsportlichen Rauchers seine anhaltende Unersetzlichkeit sein.