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Titel0712

Ein Freispruch  (Heinrich Fink)

Im schriftlichen Urteil vom 1. April 1992 stellte das Berliner Arbeitsgericht fest, »daß das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung der Beklagten vom 28.11.1991 und vom 28.02.1992 nicht aufgelöst worden ist, sondern fortbesteht.« Mündlich hatte der Arbeitsrichter Bernd Kießling bereits im Gerichtssaal verkündet: »Der erste demokratisch gewählte Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, ist mit sofortiger Wirkung als Hochschullehrer weiter zu beschäftigen.« Das Gericht hatte also meiner Klage gegen die Humboldt-Universität stattgegeben. Und die durch den Vorsitzenden der Personalkommission, Senator Erhardt, im November 1991 ausgesprochene außerordentliche Kündigung und die ordentliche Kündigung vom Januar 1992 waren für rechtsungültig erklärt. Die Kündigung aufgrund des Vorwurfes, ich sei als Informeller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit der DDR tätig gewesen, war ohne Einsicht der entsprechenden Akten und nur aufgrund einer brieflichen Information der Gauck-Behörde erfolgt. Diese Information, so hatte mir der Wissenschaftssenator gesagt, habe für ihn »urkundliche Bedeutung«.

Im Verlauf des Prozesses aufgrund meiner Klage gegen meine fristlose Entlassung als Hochschullehrer und Rektor ging der Arbeitsrichter ausführlich auf die Bewertung von Stasiakten ein: »Zunächst sind die Schreiben des Sonderbeauftragten vom 25. und 27.11.1991 und die nachfolgenden Berichte des Bundesbeauftragten einschließlich ihrer Anlagen, d. h. einschließlich der Aktenstücke aus den MfS-Akten, keine öffentlichen Urkunden, die Beweis für die darin bezeugten Tatsachen begründen könnten. Hierzu fehlt es bereits an einer gesetzlich ›vorgeschriebenen Form‹. Als Privaturkunden begründen sie, ebenso wie die in den Anlagen enthaltenen Stücke aus MfS-Akten, allenfalls Beweis dafür, daß die einzelnen Angaben/Erklärungen/Vermerke von den jeweiligen Ausstellern stammen, was der Kläger gar nicht bestreitet. Die Äußerung des Senators im Kündigungsgespräch am 25.11.1991, das (erste) Schreiben des Sonderbeauftragten sei ein ›Urkundenbeweis‹, ist deshalb rechtlich nicht haltbar.«

Noch am Vorabend des Prozesses waren meinem Anwalt Lutz Seybold Stasiunterlagen zugestellt worden, die belegen sollten, daß ich während des Evangelischen Kirchentages in Berlin 1987 telefonisch Berichte an die Stasi über Veranstaltungen geliefert hätte. Außerdem wurde in diesen Akten berichtet, ich hätte mich mit Manfred Stolpe (später brandenburgischer Ministerpräsident), der von der Stasi als IM »Sekretär« geführt wurde, in einer konspirativen Wohnung getroffen. Darüber hinaus hätte ich von der Nationalen Volksarmee für meine langjährige Tätigkeit einen »Verdienstorden in Gold« bekommen. Über diese mich angeblich überführenden Akten konnte ich mich mit meinem Rechtsanwalt vor Prozeßbeginn nicht mehr ausführlich unterhalten. Vor Gericht wies ich die Behauptungen zurück. Unter anderem entgegnete ich, daß ich als Waffendienstverweigerer im Wehrpaß registriert sei. Ich forderte, die Schriftstücke erst einmal lesen zu können. Der Anwalt des Senators, der diese Akten bereits kannte, war nach wie vor überzeugt, daß sie doch wie öffentliche Urkunden zu bewerten seien.

Mein Rechtsanwalt, der Westberliner Lutz Seybold, der sich sorgfältig in die für ihn höchst merkwürdigen Stasiakten hatte einarbeiten müssen, war aufgrund seiner erworbenen Kenntnisse überzeugt, daß ich ohne mein »Wissen und Wollen« als IM geführt und durch Dritte »abgeschöpft« worden sei. Zudem lägen die im Stasiunterlagengesetz geforderten Beweise, wie zum Beispiel eine handschriftliche Verpflichtungserklärung oder Berichte, nicht vor. Seybold hielt Erhardt vor, daß es ihm unverständlich sei, wieso der Senator, der selber Jurist sei, auf sein Recht auf Akteneinsicht verzichtet habe. Die Kündigung sei dadurch »leichtfertig«, möglicherweise sogar »grob fahrlässig«.

Dem Gericht lagen schriftlich eidesstattliche Versicherungen von zwei ehemaligen Stasioffizieren vor, die in der Hauptabteilung XX 4 (»Kirchenfragen«) des MfS zuständig gewesen waren. Sie erklärten, daß ich zu keiner Zeit für das MfS tätig gewesen sei, obwohl es wiederholt Vorschläge gegeben habe, mit Heinrich Fink Kontakte aufzunehmen. Beide hatten beeidet, nie persönlich mit mir gesprochen zu haben. Das sah und bewertete der Anwalt des Senators, Thomas Kunze, allerdings ganz anders und behauptete, die Erklärung der Offiziere sei »meineidig«. Die Senatsseite habe ausreichend belastendes Aktenmaterial vorgelegt, das eine fristlose Kündigung rechtfertige. Außerdem müsse man sich nicht auf Zeugen beziehen, die nachweislich die Unwahrheit sagen würden. Seine Ausführungen gipfelten in einer lautstarken Beleidigung: Angesichts der vorliegenden Beweislast solle ich nicht länger »lügen«.

Der Vorsitzende Richter ließ sich allerdings nicht beirren. Er würdigte die vorgelegten Akten lediglich als Indizien, die aber im Sinne der Zivilprozeßordnung keine Beweise darstellten und deshalb für eine fristlose Kündigung nicht ausreichten. Er jedenfalls hatte die eidesstattliche Erklärung der ehemaligen Offiziere als Zeugenaussage gewertet. Öffentlich widersprach er dem Anwalt Kunze: Man dürfe nicht prinzipiell davon ausgehen, daß Angestellte von Geheimdiensten vor Gericht die Unwahrheit sagen würden. Er sehe einen Widerspruch darin, daß die Senatsseite den Zeugen keinen Glauben schenke, wohl aber von ihnen verfaßte Papiere als Urkunden werte: Mißtrauen allein könne vor Gericht kein Beweis sein.

Über die Senatsverwaltung heißt es weiter im Urteil: »Die Beklagte wird – unter Zurückweisung des Vollstreckungsschutzantrages der Beklagten vom 26.03.1992 – verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluß des hier anhängigen Kündigungsschutzverfahrens zu den bisherigen Vertragsbedingungen als Hochschullehrer weiterzubeschäftigen.«

Unmittelbar nach der mündlichen Urteilsverkündung kündigte der Anwalt der Senatsverwaltung öffentlich an, Rechtsmittel gegen das eben gesprochene Urteil einzulegen. Schon am 3. April 1992 lag dem Berliner Arbeitsgericht die Berufungsklage der Senatsverwaltung vor, mit dem Antrag, den Beschluß zur Weiterbeschäftigung aufzuheben. Am 6. April 1992 übergab Senator Erhardt dem amtierenden Rektor folgende Anordnung: »Sehr geehrter Herr Professor Zschunke, zur Klarstellung der Rechtslage teile ich Ihnen mit, daß die o. g. Rechtsaufsichtsmaßnahme und die Anordnung ihrer sofortigen Vollziehung auch nach dem Urteil des Arbeitsgerichts vom 1.4.1992 gilt und zu beachten ist, da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Die Humboldt-Universität zu Berlin ist danach weiterhin angewiesen, Herrn Prof. Fink die Amtsausübung als Rektor der HUB zu untersagen.«

Auseinandersetzungen, wie Stasiunterlagen zu bewerten seien, wurden damals an vielen Stellen sachgerecht geführt, scheiterten aber meistens an der Interpretationshoheit der Stasiaktenverwalter. Daß die studentischen Senatoren der Humboldt-Universität zu Berlin schon am 7. April 1992 ihren Widerspruch gegen den Senator formulierten, ist für mich ein erfreulicher Beweis dafür, daß Demokratie erlernbar ist. In der Erklärung heißt es: »1. Mit dem Urteil des Arbeitsgerichtes vom 1.4.92 steht seitdem fest, daß Prof. Heinrich Fink als Hochschullehrer wieder an der HUB zu beschäftigen und damit wieder Mitglied der HUB ist. 2. Die Rechtsaufsichtsmaßnahme des Senators für Wissenschaft und Forschung bezieht sich bei der Begründung für die Aufforderung an den ersten Prorektor, Herrn Prof. Fink die Ausübung des Amtes zu untersagen, auf die Tatsache, daß ein nicht mehr an der HUB beschäftigter Professor nicht die Voraussetzungen für ein Wahlamt erfüllt. 3. Mit der Hinfälligkeit dieser Begründung ist der gewählte Rektor der Universität, Prof. Fink, wieder im Amt ... 4. Die von dem Senator für Wissenschaft und Forschung am 6.4.92 gegebene Begründung für die Aufrechterhaltung der Rechtsaufsichtsmaßnahme – das Urteil des Arbeitsgerichts sei noch nicht rechtskräftig – vermag nicht zu überzeugen, zumal der Senator in der damaligen Rechtsaufsichtsmaßnahme selbst erklärt hatte, der HUB könne bei Wahrnehmung der Geschäfte durch den ersten Prorektor bis zur erstinstanzlichen Entscheidung kein Schaden entstehen. Diese Entscheidung liegt bekanntlich nunmehr vor, so daß der Rechtsaufsichtsmaßnahme die Grundlage entzogen worden ist. 5. Die Tatsache, daß die Universitätsleitung daraus nicht die entsprechenden Konsequenzen gezogen hat, ist aus Sicht der studentischen Senatoren nicht hinnehmbar. Es ist ebensowenig hinnehmbar, daß der Senator den amtierenden Rektor in einem Gespräch am 6.4.92 nur bruchstückhaft über die Schritte informiert hat, die der Senator zur Weiterverfolgung des Rechtsstreits zu diesem Zeitpunkt bereits unternommen hatte. Nicht die Universität, sondern der Senator für Wissenschaft und Forschung verknüpft in unzulässiger Weise Amt und Person. Zudem weisen wir die Äußerungen des Senators in der Presse zurück, die das Ergebnis des Arbeitsgerichtsprozesses verknüpfen mit der Frage der weiteren Existenz der Humboldt-Universität ...«