Frauenquote
Afghanistans Präsident Karzai hat eine Richtlinie über »Die Pflichten der Frau« veröffentlicht. Darin heißt es, die Frau sei dem Manne »untergeordnet«. Und weiter, sie dürfe nur dann geschlagen werden, wenn es dafür einen Grund gibt, »der auf islamischem Recht beruht«. Zur Zeit dieser Veröffentlichung befand sich die Bundeskanzlerin, also eine Untergeordnete, auf Besuch in Afghanistan. Dabei äußerte sie sich über den Abzug der deutschen Soldaten in einer Weise, die deren Verbleib über 2014 hinaus nicht klar ausschloß. Das ist verständlich. Damit die dort gebrachten Opfer nicht umsonst gebracht worden sind, dürfen unsere Politiker die Soldaten erst dann aus Afghanistan abziehen, wenn die dortigen Männer ihre Frauen nur noch in der von Präsident Karzai verordneten Weise verhauen.
Günter Krone
Um die Soldaten zu motivieren
Zwecks »Erhaltung der psychischen Gesundheit« reichte die Partei Die Linke im Bundestag den Antrag ein, den im Auslandseinsatz befindlichen deutschen Soldaten unentgeltliche Telefon- und Internet-Verbindungen bereitzustellen. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne hatten zuvor einen fast gleichlautenden Antrag gestellt und zur Begründung erklärt, die Abmilderung der Trennungsbelastung sei »entscheidend für die Motivation und Einsatzbereitschaft der Einsatzkontingente«. Auf deutsch soll das wohl heißen: Die Hemmschwelle zum Töten soll gesenkt werden. Meint die PDL etwa, mit ihrer Anpassung an diese Tendenz Wählerstimmen gewinnen und durch Abkehr von ihren im Oktober auf dem Erfurter Programmparteitag beschlossenen friedenspolitischen Positionen (Beendigung der Auslandseinsätze, Rückzug aus Afghanistan) Regierungsfähigkeit beweisen zu können? Warum geht sie dann nicht noch etwas weiter und beantragt Freiflüge für die Liebsten der am Hindukusch stationierten Soldaten? Nachdem es in deutschen Gefängnissen möglich geworden ist, sich in Liebeszellen zu treffen, sollte das doch allemal auf dem Felde der Ehre möglich werden.
Borvin Wulf
Ungeheuer
Unter der biologisch-martialischen Überschrift »Kampfauftrag für das Krokodil« berichtet die
Leipziger Volkszeitung über das eruptive Innenleben von Martin Schulz, dem gegenwärtigen Präsidenten des Europäischen Parlamentes, mit dessen Offenbarung er sich kürzlich vor jungen Menschen in Pose setzte. Nach seinen Ausführungen ist er angetreten, um mit dem schlechten Image dieses Parlamentes aufzuräumen. »Schulz versteht seinen Posten ... als Kampfauftrag ...«: Er will, so wird berichtet, »nicht über den Dingen schweben, sondern im Dreck wühlen«. Dazu hat er eine »Methode Krokodil« erfunden, die er so erklärt: »Das liegt bewegungslos im Sumpf und greift erbarmungslos an, wenn Beute vorbeikommt.« Die Bezugnahme auf Bewegungslosigkeit, Dreck, Sumpf und Beute kann nachempfunden werden. Aber Krokodile? Bekanntlich sind das Menschenfresser mit einer großen Schnauze und einem kleinen Gehirn. Sie sollen auch nicht gut riechen.
Günter Krone
Gilt für Gauck das Grundgesetz?
Als der Parlamentarische Rat vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland sich Gedanken über eine Verfassung machte, war die Erinnerung an den Reichspräsidenten Hindenburg und dessen Rolle bei der Machtübergabe an die Nazis noch nicht verblaßt. Eben deshalb wurden im Grundgesetz der Bundesrepublik eventuellen politischen Eigenwilligkeiten des Bundespräsidenten enge Grenzen gesetzt. Dieser hat, neben seinen repräsentativen Auftritten im Ausland, normalerweise wie ein Staatsnotar zu agieren. Die Entscheidungen des Parlaments und der Regierung hat er zu beurkunden oder umzusetzen und dabei darauf zu achten, daß alles seinen verfassungsgemäß ordentlichen Weg geht. Keineswegs hat er das Recht, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, selbst Gesetze in die Welt zu setzen oder das regierende Personal nach eigenem Gusto ins Amt zu bringen. Nur in ganz bestimmten, exakt festgelegten Situationen hat er einen politischen Spielraum, und zwar um die parlamentarischen Funktionen in Gang zu halten. Wenn er einen Bundeskanzler vorschlägt oder den Bundestag auflöst, ist ihm damit nicht eine politische Selbstermächtigung zugestanden.
Bei der Willensbildung des Volkes, des Souveräns, ist ihm – anders als den Parteien – eine Mitwirkung qua Amt beziehungsweise Institution nicht zugeschrieben. Seine Aufgabe ist es auch nicht, das Grundgesetz – wo es der Ausdeutung bedarf – richtungweisend zu »ergänzen«. Solche Interpretationen sind Sache des Bundesverfassungsgerichtes. Für ein Tätigkeitsprofil des Bundespräsidenten als politischer »Missionar« oder als Richter politischer Moral gibt es keine verfassungsrechtliche Grundlage.
Eindeutig im Kontrast zu diesen Festlegungen im Grundgesetz stehen Appelle prominenter Politiker und einflußreicher Publizisten an den neuen Bundespräsidenten. Eine gesellschaftspolitische »Autorität« soll Joachim Gauck darstellen, als »Lehrer des Volkes« wirken, die Generalsekretärin der SPD erwartet gar »die Erneuerung der Demokratie« von ihm. Offenbar hat die Bereitschaft, sich an die Verfassung der Bundesrepublik zu halten, stark abgenommen. »Wie Joachim Gauck das Land verändern will« – so das Spiegel-Thema in der Ausgabe nach dem »schönen Sonntag« seiner Wahl. An das Grundgesetz kann die Redaktion des führenden deutschen Nachrichtenmagazins dabei nicht gedacht haben. Als »Oberhaupt« Deutschlands ist der Bundespräsident darin nicht vorgesehen.
Mit seiner »Grundsatzrede« nach der Vereidigung hat Joachim Gauck Erwartungen, er werde präsidialrhetorisch Außergewöhnliches äußern, nicht erfüllt; sie klang gleichermaßen ein bißchen nach Roman Herzog und nach Johannes Rau. Von den Parteien, die ihn nominiert hatten, bekam er für seine Ansprache das gehörige Lob, was auch sonst. Das Frankfurter Intelligenzblatt rühmte den »Ton« der Rede, »im Pathos unterorchestriert« habe Gauck gesprochen, »ohne erhobene Augenbrauen, ohne markige Akzente«. Rascher Abschied vom medialen Bild des deutschen »Erneuerers«? Der Bundestagspräsident begrüßte den neuen Präsidenten mit der humorig vorgebrachten Bemerkung, ein »Supermann« oder ein »Mensch ohne Fehler« sei dieser nicht – »reservatio mentalis« könnte man dies nennen, Norbert Lammert ist kein Hohlkopf, und wer weiß, was einem Staatspräsidenten in Zukunft einfällt. Erst einmal hat er Streicheleinheiten verteilt.
Arno Klönne
Klage einer Katholikin
»Die Protestanten übernehmen die Republik«, las ich anläßlich der Wahl des Bundespräsidenten auf
Welt online. Tatsächlich, es sieht so aus: Das neue Staatsoberhaupt, überall als »Prediger« gelobt, ist ein ehemaliger protestantischer Pfarrer, die Bundeskanzlerin Tochter eines solchen. Für das hohe Amt im Schloß Bellevue waren neben Joachim Gauck ein protestantischer Exbischof, eine protestantische Exbischöfin und eine protestantische Expfarrerin im Gespräch. In der CDU als führender parteipolitischer Kraft ist die Protestantin Angela Merkel die Vorsitzende, der Generalsekretär der Partei und ihr Fraktionsvorsitzender im Bundestag sind Protestanten. Im Zeitalter der Ökumene darf ich da keinen katholischen Neid empfinden, aber es nagt doch in mir: Müssen denn diese nicht so ganz rechtgläubigen Brüder und Schwestern in unserem Staat überall obenauf sein? Sicher, Christian Wulff ist Katholik, aber geschieden, auch kläglich gescheitert als Präsident. Und in Bayern ist ein Katholik der Landeschef, aber so richtig kirchentreu ist er auch nicht. Da finde ich also keinen Trost.
Wie kommt es nur, daß wir Katholiken in den Spitzen des Staates und auch der christlichen Partei so unterrepräsentiert sind? An einem Übergewicht der Protestanten in der deutschen Bevölkerung oder ihrem kirchlichen Eifer kann es nicht liegen, der protestantische Anteil an der Population geht noch mehr zurück als der ebenfalls abnehmende katholische, und beim sonntäglichen Kirchgang schneiden die Protestanten noch schlechter ab als die Katholiken. Also müssen es andere Faktoren sein, die zur protestantischen Übernahme der Staats- und C-Parteiämter führen. Vielleicht ist die Erklärung ganz banal, hier am Beispiel der beiden wichtigsten Ämter im Staat: Tochter eines katholischen Pfarrers kann eine Bundeskanzlerin ja gar nicht sein, jedenfalls nicht legitim. Und ein katholischer Pfarrer kann nicht einfach diesen Beruf drangeben und in die Politik umsteigen. Auch hätte er, wenn er der Kirche genehm bleiben will, im Schloß Bellevue keine weibliche Begleitung zur Hand. Nicht von ungefähr spricht Joachim Gauck gern von der Freiheit, er denkt vermutlich dabei auch an sich selbst, an seinen ungehinderten Übergang von der Kanzel zur Stasiaktenbehörde und schließlich ins Bundespräsidentenamt. Ganz wohl gefühlt hatte er sich in der Sphäre der Theologie ohnehin nicht.
Könnte beispielsweise der Kardinal Reinhard Marx sagen, jetzt lasse ich München hinter mir, den kirchlichen Dienst auch, und kandidiere für ein politisches Spitzenamt? Er könnte es nicht, ganz nebenbei stünde ihm auch sein Hausname im Weg, der würde an den unruhestiftenden Namensvetter erinnern – das kommunistische Gespenst wäre nachts in Bellevue zu befürchten.
»Gott oder die Mehrheit werden es fügen«, hat Joachim Gauck neulich gesagt, auf die Frage hin, ob denn sein Einzug in das Amt sicher sei. Ein seltsamer Satz, vor allem das »oder« darin. Die Mehrheit war ihm sicher, als auch die Bundeskanzlerin ihr Jawort zu seiner Kandidatur gab – nach vorhergehenden Bedenken, die offenbar nicht theologisch, sondern politphysikalisch begründet waren. Aber am Ende des ganzen Entscheidungsverfahrens lief es dann gut für Gauck, und so konnte Gott aus dem Spiel bleiben. Wie im Himmel über deutsche Protestanten gedacht wird, weiß kein Mensch.
Marja Winken
Non-sens
Auch der Buchhandel ist nicht mehr das, was er einmal war. Schon lange geht es nicht mehr darum, den Hunger nach Bildung oder guter Unterhaltung zu stillen. Davon könnte kein Buchhändler, keine Buchhändlerin mehr leben. Das ist mittlerweile ein Minderheitenprogramm. Die hohen Ladenmieten lassen sich nur einspielen, wenn man die gängigen Bücher (die sogenannten Bestseller) im Schaufenster und auf den Präsentiertischen hat. Das Buch zum Film oder zur Fernsehsendung, das Buch zum Politiker oder sonstwie Prominenten (selber schreiben die sowieso nicht), das Buch über den letzten Skandal oder den letzten Schrei in der Abteilung Lebenshilfe, Diät und Selbst-Management müssen immer vorrätig sein.
Neuerdings scheint aber auch das nicht mehr zu reichen. Wie man hört, hat im Buchhandel hier und da der Verkauf von »Non-books« den von Büchern überholt. Non-books sind, der Name sagt es, nicht Bücher wie noch die E-books, die ebenfalls eine immer größere Rolle spielen, sondern alles, was kein Buch ist, aber im Buchhandel verkauft wird: vom Kalender und Telefonbüchlein bis zum nutzlosen bunten Irgendwas. Die denglische Begriffsbildung dafür könnte aber auch analytisch fruchtbar sein und Karriere machen. So ist es denkbar, im Fastfood-Bereich künftig von Nonfood zu sprechen, wenn die Luft in den Papp-Brötchen von McDonalds gemeint ist. Das ist nicht unbedingt negativ zu sehen. Denn es spart auch Kalorien und macht nicht noch dicker.
Den Verzicht der Regierung auf Eingriffe in die Finanzmärkte nennen wir in Zukunft Non-Government – und schon ist eine neue Methode des Regierens daraus geworden. Wer wollte noch etwas gegen sie haben, wo doch die nondirektive Gesprächsführung als das Nonplusultra demokratischer Konfliktlösung gilt?
Reiner Diederich
Majestätsbeleidigung
Unsere Sprache ist immer im Fluß. In oftmals kurzer Zeit werden neue Wörter ihr selbstverständlicher Bestandteil (zum Beispiel »Handy«) oder erhalten einen neuen Sinn. Zwei typische Beispiele sind »Reformen« und »Solidarität«. Unter Reformen verstand man einst Maßnahmen zur Verbesserung unserer Lebensumstände, doch die Mächtigen haben inzwischen den Begriff okkupiert, um verschärfte Ausbeutung zu verschleiern. Solidarität bedeutet unter Linken Hilfe und Beistand füreinander und für die vielen Schwachen in unserer Gesellschaft, doch inzwischen nehmen die Kapitalisten den Begriff für sich in Anspruch und fordern zum Beispiel »Solidarität mit dem Betrieb«. Gemeint ist längere Arbeitszeit bei geringerem Lohn.
Führend beim Erfinden neuer Wörter und Sprachbilder sind seit langem unsere Sportjournalisten. Was bei ihnen vor fünf oder zehn Jahren aktuell war, ist längst vergessen und wird höchstens noch in der hintersten Provinz verwendet. Damals, die Fußballweltmeisterschaft fand in Deutschland statt, saßen viele Bürger ratlos vor dem Fernseher oder suchten vergeblich Erklärungen in ihrer Zeitung. An solchen Großereignissen sind ja auch die interessiert, die sonst wenig mit Sport im Sinn haben.
Ossietzky brachte deshalb unter dem Titel »Wie sie die warme Pille zirkeln« (Torerfolg) ein kleines Wörterbuch für all die heraus, die keine »Sportfexen« sind, aber doch wissen wollen, was los ist. Das scheint wieder notwendig, denn längst wird nicht mehr die Pille gezirkelt oder das Runde im Eckigen untergebracht, sondern heutzutage hofft man auf den »Goalie«, den »Torschützen vom Dienst«, der »Ausrufezeichen setzt«.
Das angreifende Team streut jetzt Adrenalin aus, indes es den »Bettelbrüdern«, also den »Punktelieferanten«, an »Entfaltungskraft« (Durchsetzungsvermögen) fehlt. Man braucht natürlich eine gute »Spielphilosophie« (früher Taktik), wenn man den Gegner gar »zerstückeln«, das heißt im Mannschafts-Ballspiel mit mindestens drei Toren Unterschied gewinnen will – oder im Boxen gleich in der ersten Runde durch K.o. Eine gute »Centerin« (Mittelstürmerin) verspricht in jedem Mannschaftssport Erfolg: Sie läßt die gegnerische Torhüterin oft »ins Klo greifen«, weil sie den »Ball nicht entschärfen« kann, obwohl »er lang war« (es handelte sich um einen Weitschuß). Die Bildersprache ist manchmal geradezu von dichterischer Kraft, um nicht Wucht zu sagen. Was Skiflieger tun, ist ein »Tanz auf der Rasierklinge«. Deshalb wird das Skispringen auch als »Flugshow« bezeichnet. Und weil das so schön klingt, kommt der Stabhochsprung ebenfalls zu diesem Namen. »Majestätsbeleidigung« ist es, wenn der Außenseiter den Spitzenreiter besiegt. Wissen sollte man schließlich noch, was eine »defensive Gesundung« bedeutet: Die Hintermannschaft im Fußball, Handball oder Eishockey ist besser geworden.
Ossietzky hofft, mit diesen Hinweisen jenen Kräften zu helfen, denen es sonst an jedem Verständnis für Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften fehlte.
Werner René Schwab
Wunder gibt es immer wieder
wurde vor Jahren in einem Schlager behauptet. Der wurde zum Ohrwurm, ist doch der Mensch für Wunder sehr empfänglich. Auch heute ist keiner vor Wundern gefeit, schon gar nicht in der Politik. Wenn Wunder Gutes bewirken, kann ja auch kaum jemand etwas dagegen haben.
Wie in
Ossietzky 6/12 berichtet, sollten die Pankower Bezirksverordneten am 14. März mit dem Haushaltsbeschluß tabula rasa für die Kultur, also unreinen Tisch machen. Das jedoch wurde den Streichwilligen durch die Gegenwehr der Bürger gründlich verhagelt. Mit 35:16 Stimmen beschloß die Bezirksverordnetenversammlung einen wesentlich veränderten Haushaltsplan: Die Kulturstandorte bleiben weitestgehend erhalten, und die ehrenamtlich geführten Bibliotheken, so die Kurt-Tucholsky-Bibliothek, bleiben bestehen, wenn auch Effektivitätsprüfungen angekündigt sind.
Die Entscheidung zugunsten der Kultur geht allerdings auch zu Lasten sozialer Aufgaben. So schließt der Bezirk das Seniorenzentrum »Stille Straße«. Außerdem wird er bei den Immobilienkosten sparen, vorrangig bei den durch die Bezirksfusion entstandenen drei Verwaltungsstandorten.
Die Sprecher aller Fraktionen betonten in ihren Stellungnahmen zum veränderten Haushaltsplan übereinstimmend, schon immer gegen den Kahlschlag gewesen zu sein, leider hätten aber die anderen ...
Der Druck von unten war die wesentliche Ursache für das Umkippen. So wundersam hat sich das »Wunder von Pankow« also doch nicht vollzogen.
Wolfgang Helfritsch
Gratulation an Gisela Notz
Unter leuchtend roten Haaren halten ihre flinken freundlichen Augen Ausschau – jeder und jedem zur Freude, bei denen ihr Blick verweilt. So erlebt man sie in Hörsälen diverser Universitäten oder bei Redaktionstreffen verschiedener Zeitschriften, bei Veranstaltungen der Vereinigung pro familia, der sie jahrelang vorgestanden hat, oder bei der Bewegungsstiftung, in deren Stiftungsrat sie daran mitwirkt, Spendengelder an basisdemokratische, umweltschützerische, antimilitaristische und feministische Projekte zu verteilen. Die Themen ihrer immer zu empfehlenden Publikationen reichen von der Geschichte des Frauenwahlrechts bis zu Theorien alternativen Wirtschaftens. Zum 70. Geburtstag wünscht die
Ossietzky-Redaktion der geschätzten Autorin weiter Gesundheit und Schaffensfreude.
E. S.
Am Rande des Absturzes
Nach mehr als zwei Jahrzehnten erinnerte das Ensemble des Theater 89 in einer Matinee an die letzten Tage des Zentralkomitees der SED. Die Uraufführung der Spielfassung fand am 11. März im heutigen Europasaal des Auswärtigen Amtes, also auf dem Originalschauplatz statt: ein kahler, schmuckloser Raum mit Podium und harten Stühlen. Lange vor Beginn waren sämtliche Stühle belegt. Erstaunlich! Nicht minder erstaunlich die Leistung der Schauspieler. Wie sie sich hineinversetzten in die letzten verzweifelten Rettungsversuche der SED-Führung, wie sie die Endstimmung spürbar, den unvermeidlichen Absturz deutlich machten, die Nöte der einst so Mächtigen, deren Ängste, deren Wut, und wie diese sich in tumultartigen Wortgefechten gegenseitig bezichtigten, das war erschütternd und auf gespenstische Weise gegenwärtig. Was nicht zuletzt der wirkungsvollen Umsetzung der tatsächlich gehaltenen Reden zu verdanken war, also der Dramaturgie Jörg Mihans und der Regie Hans-Joachim Franks. Kein Stuhl knarrte während der zweistündigen Vorstellung, die Leute saßen wie gebannt, und stark war am Ende der Applaus. Auch für den Chor der Singakademie Frankfurt (Oder). Gut nur, daß es in absehbarer Zeit vier weitere Vorstellungen von »Das Ende der SED« geben wird.
Walter Kaufmann
31. März, 19 Uhr in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Berlin; 14. April, 19 Uhr im Kleistsaal im Urania-Haus, An der Urania 17, Berlin; 12. Mai, 19 Uhr im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin; 2. Juni, 19 Uhr in der Zionskirche, Zionskirchstraße 32, Berlin
Alvermanns Algerien-Buch
Dirk Alvermann war in den 1950er Jahren begeistert vom Freiheitskampf des algerischen Volkes gegen das französische Kolonialregime, über den im Staate Konrad Adenauers wenig bekannt war. Er entschloß sich, ihn zu dokumentieren. Die Grenzen zu den Nachbarländern Tunesien und Marokko waren hermetisch abgeriegelt. Trotzdem gelang es dem jungen Fotojournalisten, sich von Tunis aus ins ostalgerische Kriegsgebiet und zur Befreiungsfront FNL durchzuschlagen. Nach seiner Rückkehr in die BRD bemühte er sich um die Veröffentlichung seiner Bilder im Hamburger Rowohlt-Verlag und erhielt die Zusage des Verlagsgründers Ernst Rowohlt. Als Alvermann das Layout für den Bildband fertiggestellt hatte, war die Verlagsleitung an Heinrich Maria Ledig-Rowohlt übergegangen, der das Thema Algerienkrieg zu heikel fand. Adenauers Außenpolitik war auf engste – auch und gerade militärische – Beziehungen zu Frankreich ausgerichtet.
Die Erstausgabe des Bildbandes »Algerien« erschien dann 1960 im Ostberliner Verlag Rütten & Loening. Die SED-Zeitung
Neues Deutschland kommentierte: »Sein Buch fand im Westzonenstaat, der mit dem französischen Kolonialismus gemeinsame Sache macht, keinen Verleger. Es spricht eine zu deutliche Sprache: Bilder ohne Worte. Gegenüberstellungen, Montagen, bis an die Grenze des Möglichen gehendes, oftmals stufenweise gesteigertes Hervorheben bezeichnender Details von Fotos, alle diese technischen Mittel der Bildwiedergabe und der Buchgestaltung üben eine eigentümliche, beschwörende Wirkung aus (...) im Einklang mit dem, was sie vermitteln: die Not, das Elend eines Volkes, das von der französischen Kolonialmacht seit 130 Jahren unentwegt physisch und wirtschaftlich mit mörderischem Ziel zur Ader gelassen wird.« Fünfzig Jahre nach dem Vertrag von Evian, mit dem Frankreich die Unabhängigkeit Algeriens anerkannte, ist Alvermanns Bildband wieder erschienen.
Karl-H. Walloch
Dirk Alvermann: »Algerien«, Steidl Verlag, 230 Seiten, 16 €
Freundschaft im Kalten Krieg
Kennengelernt haben sie sich 1962, als Heinrich Böll mit einer Schriftstellerdelegation in Moskau war. Selbstverständlich kannte der Germanist Kopelew die Bücher Bölls. Was heißt kennen – er liebte sie, und es sind wunderbare Passagen im vorliegenden Briefwechsel, wenn der Russe dem Autor interpretiert, was er in dessen Texten gelesen hat. Der Literaturwissenschaftler scheut sich dabei nicht, sein Gefühl sprechen zu lassen, er »schmeckt« die Wörter, lebt die Stimmung. Das, was beide verband, was ihre Beziehung so fest machte, war das Erlebnis des Krieges. Beide waren danach Geschlagene, für immer Geprägte. Alles, alles mußte getan werden, um nie wieder solche Feindschaft zuzulassen. Das war die Basis ihrer Freundschaft.
Eine Freundschaft über mehr als zwanzig Jahre, in die allmählich die ganze Familie und die engsten Freunde eingeschlossen wurden. Eine Freundschaft großer Herzen. Man half einander, wenn man konnte: Medizin besorgen, Bücher, Aufsätze. Wie sehnte sich Böll, Kopelew endlich sein Köln und seine Landschaft zu zeigen, mit ihm Pilze zu sammeln.
Aber die Zeiten waren nicht so. Der Kalte Krieg hatte die Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren, gar zueinander zu kommen, so erschwert, daß Kontakte zu Kraftakten wurden. Böll und Kopelew hielten durch, und über Grenzen, Verbote, Schikanen und Verleumdungen hinweg zeigte der eine dem anderen sein wahres Gesicht – ohne Maske oder Schminke. So, wie Kopelew (manchmal verschlüsselt) über Drangsalierungen berichtete, denen er und seine Kollegen ausgesetzt waren, und Böll – auch als PEN-Funktionär – zu helfen versuchte, so malte auch Böll kein rosiges Bild über seine Verhältnisse. Beide balancierten auf schmalem Grad, oft einsam. Kopelew ging nicht in allem konform mit den damaligen Kritikern der Sowjetunion, und Böll hatte nichts im Sinn mit der Konsum- und Medienwelt seiner Gesellschaft.
Ein aufregendes Buch, das eine ganze Epoche mit ihren Widersprüchen und Besonderheiten kenntlich macht und zugleich das Außergewöhnliche als scheinbar Normales vorführt: die Freundschaft zweier großer Moralisten, die über kleine Schritte und stets mit der ganzen Kraft eigenen Vermögens die Welt besser machen wollten.
Christel Berger
Elsbeth Zylla (Hg): »Heinrich Böll – Lew Kopelew Briefwechsel«, mit einem Essay von Karl Schlögel, Steidl Verlag, 750 Seiten, 29,80 €
Wolfgang Eckerts Lyrik
Was Wolfgang Eckert, den ich als realistischen, menschenfreundlichen Erzähler schätze, in seinem jüngsten Gedichtband vorlegt, scheint mir weniger gelungen. Ein eleganter Versmaßschneider ist dieser Autor nicht. Aber manches gefällt mir, zum Beispiel »Schlagwortsahne«:
Ach, die Sahne in euren Reden!
Mit euren Worten schlagt ihr sie.
Süß ist eure unfromme Lenkungsart.
Aber die Milch, aus der ihr buttert, ist
sauer.
Über euren Versprechungen
liegt geschmeidiger Rahm.
Und wenn ihr euren Gegnern zuhört,
zuckt um euren Mund Gärung.
In die Kessel schüttet ihr Lügen wie Lab.
Ihr rührt dem Volk einen Weichkäse
und quirlt die Wahrheit, bis sie gerinnt.
Wenn alles schön gelungen ist,
sahnt ihr ab.
Uns bleibt nichts als Molke.
Den Aufruf im Titelgedicht »Rettet die Clowns!« unterstütze ich.
E. S.
Wolfgang Eckert: »Rettet die Clowns!«, Gedichte, Mironde Verlag, 148 Seiten, 9,95 €
Press-Kohl
Die Lokführer der Deutschen Bahn (DB) müssen unter anderem das Fahren ebenso beherrschen wie das Bremsen. Gelegentlich passiert ihnen etwas Unangenehmes, nämlich wenn sie sich mit ihrem Zug und den Passagieren darin verfahren. Darüber berichtete ein sachkundiger Kollege, Peter Kirnich, vor einiger Zeit in der Berliner Zeitung. »Eisenbahner sind auch Menschen. Im vorigen Sommer teilte der Lokführer eines Regionalzuges in Nordrhein-Westfalen nach plötzlichem Halt auf freier Strecke den Fahrgästen mit: ›Entschuldigung, ich bin versehentlich am Bahnhof Essen-Zollverein vorbeigefahren.‹ Wenige Minuten später fuhr der Mann den Zug zurück und sammelte die vergessenen Passagiere ein. Bahnhof vergessen? ›So etwas ist kein Einzelfall, das kommt immer wieder mal vor‹, sagt der Chef des Fahrgastverbandes Pro Bahn, Karl-Peter Naumann ... ›In Bad Bevensen und einmal in Hamburg erlebte ich die Schusseligkeit der Lokführer.‹« In Bad Bevensen zum Beispiel habe damals planmäßig nur jeder zweite Inter-City-Expreß (ICE) halten sollen. Der Lokführer habe geglaubt, er steuere einen Zug, der durchfahren kann. Und letztens, so Naumann, mußten Reisende, die mit dem ICE von München nach Wolfsburg wollten, verdutzt feststellen, daß sie an ihrem Bahnhof vorbeihuschten. »Erst im rund 100 Kilometer entfernten Stendal kam der Zug zum Stehen. Dort konnten die Wolfsburger in einen Bus umsteigen und wurden an ihr eigentliches Reiseziel gebracht – mit anderthalb Stunden Verspätung ... Bereits dreimal sind ICE-Züge an der Industriestadt Wolfsburg ... einfach vorbeigefahren ...«
Von meinem Gewährsmann Kirnich weiß ich, daß in den täglich verkehrenden DB-Zügen »rund 5,34 Millionen Menschen unterwegs sind – im Jahr sind das 1,95 Milliarden Reisende ...«
Die Bahnhöfe und Haltestellen wie die Züge sind oft nicht im allerbesten Zustand. Die Lokführer lenken in der Regel als einzeln verantwortliche Eisenbahner Züge und Menschen durch Deutschland, seit die DB ihre Beifahrer eingespart hat. »1.300 Empfangsgebäude wurden seit dem Jahre 2001 veräußert, 900 weitere stehen zum Verkauf ...«
Schöne Aussichten für Reiselustige im kommenden Sommer. Falls ein schöner Sommer kommt. Aber woher sollen die Lokführer auch wissen, welcher Bahnhof noch angesteuert werden darf?
Felix Mantel