Jeweils zur Mitte einer Legislaturperiode soll die Regierung laut Beschluß des Bundestages einen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen. Unterschiedlich zusammengesetzte Regierungskoalitionen haben dies seit der Jahrtausendwende – wenngleich nicht immer termingerecht – mittlerweile vier Mal getan. Besonders viel Zeit ließ sich die CDU/CSU/FDP-Koalition in der laufenden Legislaturperiode. Erst am 18. September 2012, knapp ein Jahr nach dem vorgegebenen Veröffentlichungstermin, wurde der Entwurf des Arbeits- und Sozialministeriums zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht durch eine Indiskretion bekannt, als die Süddeutsche Zeitung darüber unter dem Titel »Reiche trotz Finanzkrise immer reicher« berichtete. Noch mal fast ein halbes Jahr dauerte es, bis das Bundeskabinett am 6. März 2013 die überarbeitete, entschärfte und geschönte Endfassung verabschiedete. Passagen zum ausufernden Niedriglohnsektor, zur enormen Lohnspreizung und zur extremen Ungleichheit der Vermögen waren auf Wunsch von Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen beziehungsweise abgeschwächt worden.
Trotz aller Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuche dokumentiert der 4. Armuts- und Reichtumsbericht eine doppelte Spaltung: Erstens wachsen Armut und Reichtum gleichermaßen. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vermögen, das Armen ganz fehlt, weil es sich zunehmend bei den wenigen Superreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Selbst wenn man das Betriebsvermögen unberücksichtigt läßt, wie es die Bundesregierung in ihrem Bericht tut, besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fast 53 Prozent des Nettogesamtvermögens, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf ein Prozent kommt. Über 40 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland leben gewissermaßen von der Hand in den Mund, sind also mitsamt ihrer Familie – weil nicht im Besitz eines Vermögens – nur eine Kündigung oder eine Krankheit von der Armut entfernt.
Zweitens geht der wachsende private Reichtum zwangsläufig mit einer öffentlichen Verarmung einher. Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2006 und 2011 um 1,5 Billionen Euro auf gut zehn Billionen Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staates in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken. Geld ist also genug da, es befindet sich aber in den falschen Taschen, was den Staat auf Dauer handlungsunfähig macht, obwohl er die Aufgabe hat, soziale Probleme zu lösen oder wenigstens zu lindern. Da sich Banker, Broker und Börsianer, besonders rücksichtslose Spekulanten, die Taschen gefüllt haben, mußte der Staat im Gefolge der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise bluten, öffentliches Eigentum verscherbeln und mehr Schulden machen, um »Rettungspakete« für Gläubigerbanken, Kapitalanleger und Großaktionäre schnüren zu können. Daher bedeuten im Grundgesetz, in den Landesverfassungen und im europäischen Fiskalvertrag festgeschriebene »Schuldenbremsen«, daß der Sozialstaat, wie man ihn bisher kannte, zu Grabe getragen wird.
Vernachlässigt werden die krassen regionalen Disparitäten, unter denen das Ost-West- und das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle besonders hervorstechen. Wenn der Sozialabbau und die Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip (im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: »Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen«) fortgesetzt werden, dürften die Städte der Bundesrepublik noch mehr zerfallen: in Luxusquartiere, wo sich die (Super-)Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, einerseits sowie in Elendsquartiere, wo sich die Armen zusammenballen, andererseits. Was der 4. Armuts- und Reichtumsbericht gänzlich verschweigt: Das hier skizzierte Szenario hat die Bundesregierung selbst heraufbeschworen, aber Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur etwa auf steuerpolitischem Gebiet bleiben aus.
Der analytische Fokus des Armuts- und Reichtumsberichts liegt auf »sozialer Mobilität«, das heißt gesellschaftlichen Auf- und Abstiegen sowohl im Lebensverlauf selbst (intragenerationale Mobilität) wie auch von der Eltern- zur Kindergeneration (intergenerationale Mobilität). Primär geht es um Erfolgs- und Risikofaktoren für Auf- beziehungsweise Abstiege in verschiedenen Lebensphasen (Kindheit, Jugend sowie frühes, mittleres, hohes und höchstes Erwachsenenalter). Zwar werden an bestimmten Stationen im Lebensverlauf vieler Menschen entscheidende Weichen gestellt, die biografische Entwicklung gibt aber höchstens Aufschluß über einen geringen Teil der Armutsrisiken. Das sogenannte Lebensphasenmodell fokussiert auf situative Momente der Armutsentwicklung, wohingegen sozioökonomische, sektorale und sozialräumliche Determinanten aus dem Blickfeld geraten. Nach den ökonomischen, politischen und sozialen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Spreizung von Einkommen und Vermögen wird im 4. Armuts- und Reichtumsbericht ebensowenig gefragt wie in den vorhergehenden. Höchstens die Auslöser persönlicher Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Trennung oder Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität sind Gegenstand der Betrachtung. Daß die Armut – ebenso wie der Reichtum – strukturell bedingt und ein gesellschaftliches Problem ist, entgeht der Analyse. Dabei hat es Bertolt Brecht in einem Vierzeiler unnachahmlich prägnant ausgedrückt: »Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Deshalb kann die Armut im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung auch nicht durch wachsenden Reichtum beseitigt werden. Anders formuliert: Reichtumsförderung, wie sie die Bundesregierung trotz wechselnder Koalitionen seit Jahrzehnten betreibt, ist keine Armutsbekämpfung.