Sahra Wagenknecht ist nicht nur erste stellvertretende Fraktionschefin und wirtschaftspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, promovierte Volkswirtschaftlerin, blitzgescheiter Gast in Talkshows. Seit einiger Zeit schreibt sie auch eine regelmäßige Kolumne für die sozialistische Tageszeitung neues deutschland. Kürzlich befaßte sie sich darin mit der sozialen Lage der lohnabhängig Beschäftigten in der Bundesrepublik und zog dabei mächtig vom Leder: »25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen: Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge, Praktika. Jeder zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet. Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersarmut. Wir reden auch über Jugendarmut, Familienarmut, die Armut der Alleinerziehenden, die Armut der Menschen, die fleißig arbeiten und trotzdem keinen anständigen Lohn bekommen. ›Wohlstand für alle‹ war das Credo der sozialen Marktwirtschaft. Heute ist ›Reichtum für wenige‹ das Credo unserer Wirtschaft.«
Wie wahr, wie wahr! Doch was sie da schrieb war, wie sie selbst vermerkte, ein Zitat aus einer Rede des »Arbeiterführers« Sigmar Gabriel, als er noch »in der Opposition« war. Genauer: Es handelte sich um einen Auszug aus der Bundestagsrede des SPD-Vorsitzenden vom August 2012 zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Mit dieser scharfen Anklage hätte er sich glatt um die Aufnahme in die von ihm ansonsten so verteufelte Linkspartei bewerben können. Er tat es selbstverständlich nicht, er hatte auch so schon genügend Analysen und soziale Forderungen der Linken übernommen und war emsig dabei, sich für die herannahende Bundestagswahl, aus der er nur allzu gern als Bundeskanzler hervorgegangen wäre, warmzulaufen.
Aus seinen Kanzlerträumen, die er nur gegen Steinbrück und mit Hilfe der Linken hätte verwirklichen können, ist bekanntlich nichts geworden. So wurde er eben Vizekanzler und Superminister für Wirtschaft und Energie, und von der Regierungsbank aus sieht die Welt, in diesem Fall die soziale Lage in der Bundesrepublik, ein wenig anders aus. Wie, das erläuterte er Mitte Februar in seiner Regierungserklärung zum Jahreswirtschaftsbericht 2014: »Deutschland besitzt ein Erfolgsmodell für eine langfristig ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung: das Modell der sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört beides: innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen … und gute Löhne, die der Inflation und der Produktivität Rechnung tragen und den Spielraum für den Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausschöpfen. Der Jahreswirtschaftsbericht 2014 will die Aufmerksamkeit auf dieses deutsche Erfolgsmodell ›Soziale Marktwirtschaft‹ richten, das sich … so glänzend bewährt hat. Wir sagen: Lassen Sie uns das stärken, was unserem Land in der Vergangenheit gutgetan hat: eine Wirtschaftspolitik – und übrigens auch eine Energiepolitik –, die nicht nur einzelne Interessen bedient, sondern die ganze Gesellschaft im Blick hat, und ein Versprechen von Wohlstand, das allen sozialen Schichten etwas zu bieten hat.«
So also sprach unter dem Beifall seiner christdemokratischen und christsozialen Koalitionskollegen der vom Arbeiter- und Oppositionsführer zum Vizekanzler gewandelte SPD-Vorsitzende, der seine scharfe Anklage – »›Wohlstand für alle‹ war das Credo der sozialen Marktwirtschaft. Heute ist ›Reichtum für wenige‹ das Credo unserer Wirtschaft« – vorerst zu den Akten gelegt hat. Notfalls kramt er sie vor der nächsten Bundestagswahl wieder hervor.
Jetzt aber liegt er erst einmal auf einer Linie mit dem Staatsoberhaupt und der Regierungschefin. Gauck hat doch auf der so unberechtigt in die Kritik geratenen Münchner »Sicherheitskonferenz« nicht nur für raschere und substantiellere Militäreinsätze deutscher Truppen im Ausland plädiert, sondern »gleich vorweg« erklärt: »Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten. Das auszusprechen, ist keine Schönfärberei … Schauen wir uns an, wo Deutschland heute steht: Es ist eine stabile Demokratie, frei und friedliebend, wohlhabend und offen.« Kurz zuvor hatte er aus Anlaß des 60jährigen Bestehens des Walter-Eucken-Instituts das ordnungspolitische Konzept der sozialen Marktwirtschaft gewürdigt und unterstrichen, daß Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft zusammengehören. Wer eine freiheitliche Gesellschaft befürworte, möge sich einsetzen für Markt und Wettbewerb.
Die Bundeskanzlerin bedarf solcher Nachhilfe nicht. 2009, Gauck werkelte noch als Vorsitzender der Vereinigung »Gegen Vergessen – Für Demokratie«, hat sie in einem längeren Beitrag im Zentralorgan ihrer Freundin Friede Springer, der Bild-Zeitung, die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise als Chance für eine internationale Ausbreitung des deutschen Modells einer sozialen Marktwirtschaft bezeichnet und betont, daß Deutschland alles daran setze, daß sich die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auch weltweit entfalten können. Meist liebt sie die Kurzfassung, die sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wiederholt: »Deutschland geht es gut.«
Wie gut es unserem Vaterland geht, zeigen auch die jüngsten Nachrichten. Die Diäten unserer Bundestagsabgeordneten konnten auf einen Schlag um rund zehn Prozent auf 9082 Euro erhöht werden. Die Reallöhne für die gewöhnlichen Lohnarbeiter lagen 2013 um 0,7 Prozent niedriger als zur Jahrtausendwende, und im gleichen Zeitraum stiegen die Vermögenseinkommen um erfreuliche 62 Prozent. Auch die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West verringern sich ständig. Im Schnitt betragen sie nur noch rund läppische 20 Prozent. Das und vieles mehr verdanken wir der sozialen Marktwirtschaft. Schön, daß das der Vizekanzler endlich wieder einsieht!
Daß nun Sahra Wagenknecht ihm, dem auf der Regierungsbank Geläuterten, seine glücklicherweise überwundene Fehleinschätzung um die Ohren haut, ist unfair und höchst ungerecht. Oder etwa nicht?