Anfang des Jahres weilte ich in Indien, das kurz vor der Wahl zur Lok Sabha, dem indischen Parlament, steht. Die Situation in dem bevölkerungsreichsten Staat Süd-asiens ist besorgniserregend. Der in den letzten Jahren mit vielen Vorschußlorbeeren vorausgesagte ökonomische Aufschwung, der mit Hilfe von Sonderwirtschaftszonen und gigantischen Investitionen ausländischer Konzerne, besonders aus Europa und den USA, erreicht werden sollte, ist nicht eingetreten. Erwartungen blieben unerfüllt. Die noch regierende Kongreßpartei unter Premierminister Manmohan Singh und dem Gandhi-Clan steht unter Druck. Die Enttäuschung der Bevölkerung in den Millionenstädten, aber besonders auch auf dem Lande, wo zwei Drittel der Inder leben, ist groß. Vor allem die Arbeitslosigkeit ist ein Problem. Das alles gibt den nationalchauvinistischen, besonders hinduistisch-nationalistischen Kräften Auftrieb. Säkulare Strömungen werden mehr und mehr diffamiert und ins Abseits gedrängt. Das trifft nicht nur für die einst starke Linksphalanx unter Führung der Kommunisten (CPI und CPIM) und der Gewerkschaft Citu zu, sondern auch für den progressiven Teil der alten Kongreßpartei und anderer säkularer Parteien.
Rahul Gandhi, Spitzenkandidat der Kongreßpartei und für das Amt des Premierministers nominiert, sah sich zudem in einem Interview gezwungen, zuzugeben, daß die damaligen Verantwortlichen der Kongreßpartei möglicherweise nicht ganz unschuldig am Massaker an den Sikhs in Amritsar (1984) waren. Das Eingeständnis hatte zur Folge, daß der derzeitige Ministerpräsident des Stadtstaates Neu-Delhi, Arvind Kejriwal, von der populistischen Aam-Aadmi-Partei (AAT, »Partei des kleinen Mannes«), einer erst 2012 gegründeten Partei, sich im Konkurrenzkampf um das höchste Amt Indiens als Unbelasteter in den Vordergrund schieben konnte. Seine Partei hat sich dem Kampf gegen Korruption verschrieben. Kejriwal verlangte die Einsetzung einer Sonderkommission, die das Massaker an den Sikhs erneut untersuchen soll. Trotz des Saubermann-Images dürfte Kejriwal aber im Rennen um den Premierministerposten keine Chance haben; zum einen, weil seine Partei über Neu-Delhi hinaus noch nicht entsprechende Strukturen aufbauen konnte, zum anderen bleibt er ein unsicherer Kantonist im Hinblick auf seine tatsächlichen Absichten.
Gleichzeitig zieht der nach derzeitigem Stand weit vorn liegende Kandidat der hindu-nationalistischen Bharatiya-Janata-Partei (BJP), Narendra Modi, daraus zusätzlichen Vorteil, drängt es doch seine mögliche (wenn auch gerichtlich nicht bestätigte) Verantwortung für die Massaker an den Moslems im Jahre 2004 in den Hintergrund. Modi und das von der BJP geführte Bündnis (National Democratic Alliance – NDA) wollen den Muslimen (immerhin etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens) innerhalb eines »Hindustans«, zu dem sie das heutige Indien machen wollen, keinen Platz einräumen. Modi ist seit Jahren Ministerpräsident von Gujarat, das er mit harter Hand und ökonomisch durchaus recht erfolgreich regiert. Er und seine Unterstützer, vor allem die Safranaktivisten, bestimmen die vorherrschende Meinung laut und aggressiv. Modi sieht sich schon als Wahlsieger und zukünftiger Herrscher in Indien.
Derweil macht Rahul Gandhi als Kandidat der Kongreßpartei Wahlkampf – wenig geschickt. Er argumentiert selten mit tatsächlichen und zukünftigen Perspektiven, vielmehr mit allgemein-politischen und philosophischen Betrachtungen, manchmal in recht illusorischer Weise. Er agiert eher hilflos, oft sogar unsicher. Das ist in der gegenwärtigen Situation genau das Falsche. Es gibt Analysen, die Rahul Gandhi nach seinen bisherigen Auftritten auf gänzlich verlorenem Posten sehen.
Außer dem Hindunationalisten Narendra Modi und Rahul Gandhi von der Kongreßpartei, daneben Arvind Kejriwal von der AAT, macht sich eine sogenannte dritte Front Hoffnungen, zumindest ein parlamentarisches Gegengewicht zustande zu bringen. So kam ein Wahlbündnis zwischen der Partei All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK) und den Kommunisten (CPI und CPIM) zustande. Geführt wird das Bündnis von der im südindischen Staat Tamil Nadu regierenden Ministerpräsidentin J. Jayalalithaa (AIADMK). Das erklärte Ziel: eine säkulare und demokratische Alternative zu BJP und Kongreßpartei. Auf ein Problem des Bündnisses verweisen Beobachter jedoch: Es bestehen enge Verbindungen zwischen der Ministerpräsidentin und Narendra Modi, befürchtet wird eine mögliche Hinwendung zu Modi nach der Wahl. Auch in anderen Staaten, so zum Beispiel in Odisha und Andra Pradesh, gibt es Bündnisbestrebungen gegen eine nach der Wahl befürchtete hinduistisch-nationalistische Politik unter Modi, die als Gefahr angesehen wird und vermieden werden soll. Doch die partikularen Interessen in den Staaten der indischen Union sind häufig so gegensätzlich und dazu oft von persönlichen Animositäten geprägt, daß es selbst in einer für das Land so entscheidenden Situation schwer ist, die erforderlichen Bündnisse zustande zu bringen. Die Opposition ist zersplittert, die Kongreßpartei geschwächt.
Wie wichtig gerade jetzt eine Einigung progressiver Kräfte wäre, macht auch das Ende Januar zwischen Indien und Japan unter dem nationalistischen japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe geschlossene Abkommen deutlich, das weitgehend geheim blieb. Es wurde aber schon während der Verhandlungen eine Achse zwischen Indien und Japan beschworen. Diese soll mit Hilfe der USA – nicht nur unterschwellig – gegen die Dominanz Chinas errichtet werden und für neue Machtverhältnisse im asiatischen Raum sorgen. Es geht nicht nur um eine technologische Kooperation zwischen Indien und Japan, sondern um eine gezielte militärisch ausgerichtete Zusammenarbeit. Diese soll Vorteile für beide Länder bringen, ganz besonders im Rüstungssektor.