»Die deutsche Regierung hat kein moralisches Recht, den Griechen zu verweigern, was den Deutschen selbst gewährt wurde«, sagte Alexis Tsipras am Schluß seiner Wahlkampagne im Januar 2015, in Anspielung auf den Londoner Schuldenerlaß der Westmächte von 1953, und fügte hinzu, daß es auch eine politische Pflicht Griechenlands gegenüber den Generationen sei, die Widerstand gegen die deutsche Nazi-Besatzung geleistet haben, dafür einen Ausgleich zu erhalten. Es handle sich um eine historische Schuld, die nicht abgetragen sei und der man sich auf europäischer Ebene stellen müsse.
An diesem historischen Tatbestand ist nichts zu deuteln, selbst eine einschlägige Kommission des Bundestags hat hinsichtlich der deutschen Zwangsanleihe beim griechischen Staat (bei Kriegsende noch 476 Millionen Reichsmark), die damals deutsche Besatzungskosten bis nach Nordafrika decken sollte, festgestellt, daß darauf ein Anspruch auf Rückzahlung besteht.
Als juristisch kontrovers haben sich dagegen die Entschädigungsforderungen der Opfer der Verbrechen an der Zivilbevölkerung erwiesen, als eines von vielen sei nur das Massaker von Distomo genannt, für das die deutsche Regierung jede direkte Entschädigung ablehnt, trotz anderslautender höchstinstanzlicher Gerichtsurteile in Italien und Griechenland. Sie hat sich 2012 sogar aus Den Haag eine »Staatenimmunität« bescheinigen lassen, und man darf annehmen nicht nur für vergangene Kriege (s. Ossietzky 4/2012). Aber diese ist nun wiederum in Frage gestellt durch ein jüngstes Urteil des italienischen Verfassungsgerichts (2014), das auch das Kapitel der italienischen Militärinternierten neu aufschlagen kann. Man fürchtet in Berlin, auch andere geschundene und bisher leer ausgegangene Länder wie Rußland oder die Ukraine könnten umfangreiche Forderungen stellen.
Denn bisherige bilaterale Abmachungen bezogen sich jeweils nur auf Reparationen für Kriegsschäden. Immerhin wüteten die deutschen Truppen in Griechenland ebenso brutal wie in Osteuropa, ließen 1944 etwa 300.000 Zivilisten verhungern, verschleppten und ermordeten 60.000 Juden aus Thessaloniki und plünderten das Land aus. Dafür gab es 1960 sage und schreibe 115 Millionen DM Entschädigung! Alles andere wurde in weite Ferne geschoben, auf einen hypothetischen Friedensvertrag nach einer Wiedervereinigung.
Und eben ein solcher wurde 1990 geschickt umgangen, um nämlich zu verhindern, daß sich unermeßliche Ansprüche stellen würden, wie wir auch aus den Erinnerungen Beteiligter (zum Beispiel Hans-Dietrich Genschers) erfahren konnten. Denn Friedensverhandlungen mit mehr als 60 Staaten hätten für Deutschland sicher wirtschaftlich einschneidende Folgen gehabt. Die Tatsache, daß der Kalte Krieg es Deutschland ermöglicht hatte, sich mit US-Hilfe seiner immensen Kriegsschulden aus zwei Weltkriegen weitgehend zu entledigen (das Thema der Reparationen an die UdSSR sei hier beiseite gelassen, das nicht einmal von Gorbatschow 1989 vorgebracht wurde), und daß die deutsche Wirtschaft im Kriege jahrelang die Sklavenarbeit von 18 Millionen Europäern ausbeuten konnte, von denen nur sieben Millionen sie überlebten, ist bis heute nicht ins allgemeine deutsche Bewußtsein gedrungen. Der Marshall-Plan konnte dann auch in Kürze die nur oberflächlich beschädigte (west-) deutsche Großindustrie auf Touren bringen, und das sogenannte Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf. Gerhard Schröders Stiftungsinitiative der deutsche Wirtschaft »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« war dann im Jahr 2000 – immerhin mehr als zehn Jahre nach der Wiedervereinigung – ein später Tropfen auf den heißen Stein und kam nur noch letzten Überlebenden in einigen Ostblockländern zugute.
Aber man kann die Kriegsgreuel ja sowieso nicht mit Geld »wiedergutmachen«, heißt es von deutscher Seite bis heute. Da möchte man es lieber ganz lassen. Und so lehnen auch die SPD und die Grünen jede »Vermischung« von damaligen und heutigen Forderungen und Schulden ab. Sie möchten höchstens Gelder für eine Stiftung für ein deutsch-griechisches Jugendhilfswerk lockermachen, das die Länder zukünftig einander näherbringen möge. Angesichts der aktuellen Überlebensprobleme der Griechen, in die sie auch durch die jüngste polit-ökonomische Entwicklung gerieten, an der Deutschland heute wie damals entscheidenden Anteil hat, erscheint auch eine solche Stiftung als Zynismus. Darf man von diesen Parteien nicht mehr Einsicht erwarten, Anstöße für ein Umdenken im Bundestag? Wie wäre es mit der Auflage eines großen Solidaritätsfonds deutscher Bürger für ihre griechischen Mitbürger?
Aber jede Erinnerung, jedes Gedächtnis ist ein Mosaik, das sich aus vielen Elementen zusammensetzt, die vor allem von politischer Aktualität bedingt sind. Während die deutschen Regierungen seit Jahren gebetsmühlenartig ihre moralische Verantwortung gegenüber den Opfern des »Dritten Reichs« wiederholen, bestehen sie darauf, über einst geleistete Zahlungen hinaus für nichts weiter materiell haften zu müssen. In diese Richtung arbeiten auch die Medien, die die öffentliche Meinung in Deutschland bestimmen. Von der gehirnverheerenden Wirkung der Bild-Zeitung bis zu peinlichen Fernsehtalkshows reicht die Beeinflussung, so daß einer Mehrheit der Befragten jüngsten Meinungsumfragen zufolge der Satz zugeschrieben wird, die Deutschen hätten den unverschämten Griechen nichts mehr abzugelten.
Dabei liegen nur in der deutschen Sprache die Bedeutungen von (moralischer oder juristischer) Schuld und (finanziellen) Schulden so dicht beieinander.
Doch 25 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung zeigt sich deutlich: Beide ehemalige deutsche Staaten sind untergegangen in einem neuen mächtigen Deutschland, das Europa zwar nicht regiert, aber mit seiner wirtschaftlichen Übermacht in Schach hält. Die Nazi-Vergangenheit wird seitdem nicht mehr nur verdrängt, aber in ihrer Bedeutung für heute stark eingeschränkt, für den größten Teil der Nachgeborenen gehört sie inzwischen zur fernen Geschichte, die man ihnen nicht mehr anlasten kann. Damit ist das heutige – im Selbstverständnis gute, weil starke – Deutschland insgesamt seiner historischen Kontingenz entrückt, das heißt jenem spezifischen Kapitalismus, der sich im späten 19. Jahrhundert noch in einem feudal-autoritären Kontext entwickelte, dem die Weimarer Republik keine Demokratisierung, sondern nur eine (autoritäre) Modernisierung verpassen konnte, die sich im »Dritten Reich« und danach fortsetzte und – ohne Systembruch – nunmehr in einer der »Globalisierung« angepaßten Form bis hin zur aktuellen Führungsmacht Europas reicht. Und daran möchten die wenigsten rütteln, denn es darf keine Alternative zu diesem europäischen Kolonialgefälle geben!
Deshalb will das deutsche Establishment der Syriza das Handwerk legen, ohne zu begreifen, was das für Griechenland – und Europa selbst – bedeuten würde. Oder weiß man es doch und nimmt lieber einen weiteren großen Rechtsruck für ganz Europa in Kauf? Weimar non docet. Und wer erinnert sich noch an den Vers des Horaz: »Graecia capta, ferum victorem cepit«, mit dem er den über die Griechen siegreichen Römern schwerwiegende Folgen ankündigte.