Bei den geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA – Comprehensive Economic and Trade Agreement) sowie den USA (TTIP – Transatlantic Trade and Investment Partnership) geht es in erster Linie nicht um den endgültigen Abbau von heute schon kaum noch vorhandenen Zöllen oder um Chlorhühnchen, Hormonfleisch, Genfood und um die Beseitigung nicht-tarifärer Handelshemmnisse wie unter anderem einer Produkt-Harmonisierung von einklappbaren Autospiegeln, sondern entscheidend um einen Investorenschutz. Ulrich Grillo, BDI-Präsident, bringt es auf den Punkt: »Für die deutsche Industrie ist dieses Instrument unverzichtbar, um ihre Auslandsinvestitionen gegen politische Risiken abzusichern.«
Man muß es ökonomisch richtig verstehen, was hier mit CETA und TTIP von einer neoliberal geprägten Politik intendiert ist. Der endgültige Kniefall vor den Kapitaleigentümern, vor den Shareholdern, und ihren Profitinteressen. Es soll die kapitalistische Logik im Duktus des Shareholder-Value-Konzepts endgültig auf den Kopf gestellt werden. Nicht mehr der Profit soll Restgröße bei der Verteilung der Wertschöpfung sein, sondern das Arbeitseinkommen der abhängig Beschäftigten. Die Profitrate der Shareholder wird dabei durch ein Target return pricing vorab bei jeder Investition festgelegt, und die Arbeitseinkommen sind danach (ex post) darauf abzustimmen und kleinzuhalten. Dieser Grundsatz soll jetzt durch das internationale Investitionsschutzabkommen innerhalb von CETA und TTIP rechtlich, vor allem für transnational agierende Konzerne, zementiert werden.
Dabei sind derartige Abkommen nicht neu. Allein Deutschland hat schon 130 solcher Abkommen auf bilateraler Ebene mit Konzernen abgeschlossen. Weltweit geht man von mehr als 3.200 Verträgen aus. Bis Ende 2012 hat es im Rahmen solcher Verträge bisher gut 500 Klagen und Schiedsverfahren gegeben. Damit wird es den Shareholdern ermöglicht, einen demokratisch verfaßten Staat vor einem außergerichtlichen »Sondertribunal« auf Schadensersatz zu verklagen, wenn den Kapitaleignern (Investoren) die demokratisch entstandenen politischen Entscheidungen (Gesetze) nicht passen, weil die Konzerne dadurch ihre maximal erwartete Profitrate gefährdet sehen. Auf diesem Wege verklagt gerade der schwedische Energiekonzern Vattenfall Deutschland auf 4,7 Milliarden Euro Entschädigungszahlungen wegen des Ausstiegs aus der Kernenergie. Dies bedeutet letztlich, daß in demokratischen Rechtsstaaten vom Volk gewählte Politiker eine »Paralleljustiz« zulassen wollen. Das ist ein ungeheuerlicher Angriff auf den demokratischen Rechtsstaat, der nach einem sofortigen Einschreiten des Bundesstaatsanwalts gegen Politiker verlangt, die das bestehende Verfassungsrecht und auch die einfache Gesetzgebung sowie die Gerichte (Judikative) in den einzelnen Mitgliedsstaaten beugen und aushebeln wollen. Völlig unverständlich ist, daß Richter und Staatsanwälte, die gesamte Justiz als staatliche dritte Gewalt in einer Demokratie, nicht gegen die politische Legislative aufbegehrt und sie in ihre Schranken verweist. Andreas Fischer-Lescano und Johan Horst vom Zentrum für europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen kommen in einem Gutachten zu CETA zu folgendem vernichtenden Befund: »Die Einführung von Investor-Staats-Schiedsgerichten im CETA verletzt das im Unionsrecht (Art. 19 EUV iVm Art. 263ff. AEUV) und im Grundgesetz verankerte richterliche Rechtsprechungsmonopol (Art. 92 GG). Der EU fehlt zudem die Kompetenz, ein solches Verfahren auf Portfolioinvestitionen und den Bereich der Finanzdienstleistung zu erstrecken.«
Subsumierung von Politik und Gesellschaft unter Kapitalinteressen
Schon heute gibt es eine nicht akzeptable Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit in den jeweiligen Staatsverfassungen. So auch im deutschen Grundgesetz. Obwohl in der Ökonomie hinlänglich verifiziert ist, daß in einem wie auch immer gearteten Produktionsprozeß ohne den Einsatz des Menschen, der Arbeitskraft, ein Output und Wert nicht erzeugt werden kann, haben trotzdem das Kapital beziehungsweise deren Eigentümer in den Unternehmen das ausschließliche Sagen über ihre Beschäftigten. Final entscheiden nur die Unternehmer, ob sie Arbeitskräfte einstellen, wie diese unter vom Management organisierten straffen Hierarchien zu arbeiten haben, und wann sie zur Entlassung anstehen. Und bei Unternehmensverkäufen werden nicht nur die Assets, die Vermögenswerte, auf einen anderen Kapitaleigner übertragen, sondern auch die Beschäftigten werden mit verkauft. Was sollen sie auch machen, sind sie doch abhängig vom Unternehmer. Sie erhalten nur dann einen ökonomischen Wert, wenn ein Kapitaleigner, oder wie es heute heißt, ein Investor, sie am Arbeitsmarkt nachfragt. Die Verfassung deckt das alles rechtlich ab und stuft hier die freie unternehmerische Entscheidung, abgeleitet aus der allgemeinen Berufsfreiheit (Art. 12 GG), in Verbindung mit dem Eigentum an den Produktionsmitteln (Art. 14 GG) höher ein als den arbeitenden Menschen, der letztlich die gesamte Ökonomie bewegt und einzig gesellschaftliche Neuwerte beziehungsweise ein verteilbares Mehrprodukt in Form von Mehrwert schafft.
Jetzt wollen die Kapitaleigner mit CETA und TTIP auch noch zusätzlich die Politik, also ganze Staaten, in »Geiselhaft« nehmen. Die bestehende und verfassungsrechtlich abgesicherte Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit in den Unternehmen reicht den Kapitaleignern für ihr schon bestehendes Lohnausbeutungsregime nicht mehr. Jetzt soll auch noch das private »Investitionsmonopol des Kapitals« (Erich Preiser) vor politischer Einflußnahme geschützt werden. Dies wird zwar heute schon durch einen Lobbyismus-Apparat versucht und auch vielfach durchgesetzt. Dazu ist jedoch ein hoher Aufwand notwendig. Da sind aus Kapitalsicht private Sondertribunale (»Schiedsgerichte«) wesentlich weniger aufwendig und in der Umsetzung ergebnissicherer. Die herrschenden, den Staat vertretenden, Politiker sehen das offensichtlich genauso und machen sich deshalb für die Freihandelsabkommen stark. In einer parlamentarischen Demokratie gibt es eben keinen »neutralen« Staat. Es ist immer entscheidend, welche Partei mit welchen Interessen im Parlament die Mehrheit hat und – auch in Koalitionen – die Regierung bildet. Vertritt diese, wie im Fall der geplanten Freihandelsabkommen, einseitig die Interessen des Kapitals, der Unternehmer, oder zumindest gleichberechtigt auch die Interessen der abhängig Beschäftigten und der ganzen Gesellschaft? Für Karl Marx ist diese Frage keine Frage: Im Kapitalismus setzt sich im bürgerlichen (interessenbesetzten) Staat final immer nur die in der Wirtschaft herrschende Kapitalklasse mit ihren einseitigen und letztlich aber das System selbstzerstörenden maßlosen Profitansprüchen durch. »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß«, so Marx, »der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.«
Politikversagen und privilegierte Komplizenschaft
Dazu wurde einmal mehr am 25. September 2014 im Deutschen Bundestag ein Beweis erbracht. Die Fraktion der Linken zwang hier über einen Gesetzesantrag in namentlicher Abstimmung die ehemalige Arbeiterpartei SPD, ihre heute wahren Interessen offenzulegen. Gegen ihre eigenen Parteibeschlüsse, die sich zusammen mit der Position des DGB gegen einen Investorenschutz im CETA und TTIP öffentlichkeitswirksam wenden, stimmte die SPD-Fraktion im Bundestag dennoch für die Interessen des Kapitals, für den Investoren- beziehungsweise Kapitalschutz. »Im Kern ging es darum«, schreibt der wirtschaftspolitische Sprecher der Links-Partei im Bundestag, Michael Schlecht, »die Bundesregierung auf die Ablehnung von Schiedsgerichten in den Freihandelsabkommen festzulegen. Denn der Parteibeschluß nützt nichts, wenn er Parteibeschluß bleibt. Wirklich wirksam und verbindlich wird er erst, wenn ihn das Parlament beschließt. (…) Ergebnis der Abstimmung: Der Antrag wurde mit den Stimmen der Regierungskoalition abgelehnt. Anders gesagt: Die SPD lehnte ihre eigenen Forderungen ab! Faktisch hat sie auch gegen den DGB gestimmt.«
So ist es halt, könnte man resignierend feststellen, im staatsmonopolistischen Kapitalismus, wo die herrschende Politik gemeinsame Sache mit den privaten Monopolen und Oligopolen macht und wo selbst, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer betonen, die Aussagekraft des Klassenbegriffs an seine Grenze stößt. »Der Unterschied von Ausbeutern und Ausgebeuteten tritt nicht so in Erscheinung, daß er den Ausgebeuteten Solidarität als ihre ultima ratio vor Augen stellte: Konformität ist ihnen rationaler. Die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse setzt längst nicht in Gleichheit des Interesses und der Aktion sich um.« Der Politikwissenschaftler Kai Lindemann beschreibt vor dem Hintergrund der Grenzen des Klassenbegriffs in Anlehnung an den deshalb von Adorno und Horkheimer eingeführten »Racket-Begriff«, der ursprünglich den Zustand der Schutzgelderpressung von kriminellen Banden, wie der Mafia, definiert, den heutigen finanzmarktgetriebenen Neoliberalismus als ein Beutesystem von »Racketeers«. »Nicht ohne Grund hat der Racket-Begriff seinen Ursprung in der Schutzgelderpressung, denn Adorno und Horkheimer sehen fließende Übergänge zwischen der monopolkapitalistischen Praxis der Surplusaneignung und der ›außergesetzlichen‹ Herrschaft schutzgelderpresserischer Banden. Letztere betreiben die Aneignung lediglich mit Methoden, die zum Staatsmonopol – der ›physischen Zwangsgewalt‹ – in Konkurrenz treten können. ›Der Verbrecher‹, so Horkheimer, ›repräsentiert das unrationellere, primitivere Racket gegenüber dem vom Staat geschützten Klassenmonopol. Sein Beruf weist auf früh- und vorbürgerliche Formen der Herrschaft zurück; sie wuchern als Mafia und Camorra verachtet in der Gegenwart wie gestürzte Gottheiten, die vor der neuen Religion zu dämonischen Mächten geworden sind.«
Rackets sind heute »eine privilegierte Komplizenschaft, deren Strukturen durch die Festigkeit der internen, informellen Verbindungen und die Intensität der Verflechtung mit staatlichen und wirtschaftlichen, legalen und illegalen Strukturen bedingt ist. Die informellen Verbindungen sind dabei von der ideologischen Nähe der Mitglieder abhängig. Der Eintritt in das Racket ist das entscheidende Privileg, das über Macht oder Ohnmacht, Inklusion oder Exklusion entscheidet.« Hier haben die abhängige Arbeit verrichtenden Massen nichts zu erwarten. Dies stellte schon 1776 Adam Smith fest, als er schrieb: »Der bedauernswerte Arbeiter, der gewissermaßen das ganze Gebäude der menschlichen Gesellschaft auf seinen Schultern trägt, steht in der untersten Schicht dieser Gesellschaft. Er wird von ihrer ganzen Last erdrückt und versinkt gleichsam in den Boden, so daß man ihn auf der Oberfläche gar nicht wahrnimmt.« Das müßte aber nicht so sein. Dazu bedarf es jedoch kämpferischer Gewerkschaften, einer wirklich starken linken politischen Kraft im Parlament und auch einer merklichen außerparlamentarischen Opposition in Sozial- und Umweltverbänden sowie den Kirchen und nicht zuletzt an den Hochschulen. Die Wut der Bürger und Bürgerinnen hat schon das 1996 geplante Multinationale Investitionsabkommen (MAI) und 2012 das multilaterale Anti-Piraterie-Abkommen (ACTA) zu Fall gebracht. Die europäische »Bürgerinitiative Stop TTIP«, eine Vereinigung von fast 300 europäischen Organisationen, hat bereits mehr als eine Million Unterschriften gegen TTIP gesammelt. Das macht Mut und Hoffnung auf eine Verhinderung der geplanten demokratiefeindlichen Freihandelsabkommen.
Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup ist Wirtschaftswissenschaftler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.