»Das hier ist der zukünftige Hotspot in Lissabon für Leute, die jetzt investieren wollen«, meint Miguel, der smarte Immobilienmakler mit den zurückgegelten Haaren und der dunkelgrünen Marken-Steppjacke. »In zehn Jahren wird Alfama boomen, wenn Sie jetzt kaufen, haben Sie in zehn Jahren den zehnfachen Gewinn, wenn nicht mehr.« Miguels Augen leuchten, als habe er bereits jetzt die Renditevision in Erfüllung gehen sehen. Warum er die Zahl Zehn so oft wiederholt, bleibt sein verkaufspsychologisches Geheimnis. Das kleine Maklerbüro mit den Angeboten des Monats befindet sich in der Rua do Paraiso, der Paradiesstraße, die eigentlich zu schmal ist, um Straße zu sein. Aber hier in Alfama, dem Viertel gleich hinter dem Bahnhof Apolónia direkt am Tejo-Fluß, nennen sich fast alle kleinen und steilen Gassen selbstbewußt »rua«, Straße eben. Und paradiesisch geht es hier auch nicht gerade zu: Die Sonne, fast immer zuverlässig hinter den an den Tejo-Kaianlagen ankernden Kreuzfahrtschiffen aufgehend, sie dringt hier nur eine knappe Stunde am Tag in Miguels Büro vor. Die Wäsche der Hausbewohner hängt vor den Fenstern, der Putz der dreistöckigen und windschiefen Häuserfronten bröckelt pittoresk vor sich hin, und der Moosbesatz auf den Mauern, hinter denen verlassene Häuser vor geraumer Zeit einfach in sich zusammenfielen, er wächst sich zu einem tiefgrünen Teppich aus.
Aber genau diese Attribute des in die Jahre gekommenen Viertels Alfama, hier im Lissabon der kleinen Leute, und die Abwesenheit von schicken Bars, von teuren Restaurants, Boutiquen oder Luxuswohnungen – all das sieht Miguel als derzeit leider noch in Kauf zu nehmendes Manko. »Wenn ich es schaffe, nur einen einzigen Galeristen oder einen solventen Gastronomen zu überzeugen, hier sein Geschäft zu eröffnen, dann entwickelt sich der Boom ganz von selbst.« Und während er seinen bislang unerfüllten Projekten nachhängt und sich dabei einen Fussel vom Jackenärmel streift, schleppen sich drei alte Frauen mit Einkaufstüten die Rua do Paraiso hinauf. Vor dem kleinen Friseurgeschäft mit den beiden Barbierstühlen halten sie schweratmend inne, grüßen den ebenso greisen Friseur und teilen offensichtlich ihre Enttäuschung über das Wetter, denn sie deuten erregt auf die dicken Wolken, die an diesem Februarmorgen über dem Viertel festzuhängen scheinen. Auch in den Fenstern über ihnen schauen ältere Menschen, auf ihre Fensterkissen gestützt, hinauf in den regenschwangeren Himmel. Sie haben ihr ganzes Leben hier in Alfama verbracht, zwischen dem Ufer des Tejo und der mächtigen Burg Sao Jorge, die über den steil zu ihr ansteigenden Gassen thront. Hier unten befand sich im Mittelalter das größte jüdische Ghetto Lissabons, und hierher flohen Anfang der vierziger Jahre die vom Naziterror durch ganz Europa gehetzten europäischen Juden und andere – zumeist politisch – Verfolgte. Einige der Alten aus der Rua do Paraiso haben als Kind noch miterlebt, wie sich diese Menschen zu billigster Kost und Logis bei ihren Eltern, den Hafenarbeitern, Wäscherinnen und Handwerkern, einmieteten. All diese Fremden aus den Weiten Europas, die Hitlers Schergen entkommen waren – oder doch noch nicht ganz, wenn das nötige Visum zur Ausreise fehlte oder das Geld für die Schiffsüberfahrt aus Lissabons Hafen hinüber nach Havanna, New York oder Santo Domingo –, sie lebten hier für nur kurze Zeit mit den Menschen aus Alfama zusammen, die jetzt mit schlohweißen Haaren im Schatten der Gassen sitzen und den Vorbeieilenden freundlich zunicken. Die Alten aus der Rua do Paraiso, sie wuchsen damals hier heran, fanden ihr Glück oder auch nicht, arbeiteten wie ihre Eltern tagsüber in den Fischmärkten am Fluß, als Marktverkäufer unten an der Apolónia-Station oder kehrten am Abend aus den innerstädtischen Betrieben zurück, mit der Straßenbahn 28, die sich heute noch so quietschend durch die Gassen hinaufschiebt wie damals, als man jung war und die Kinder großzog, hier in Alfama. Da hallten die Gassen vom Geschrei der Kleinen wider, es gab keine Kindergärten, die Großeltern kümmerten sich um den Nachwuchs, oder aber die Eltern, wenn sie ihre Arbeit wieder verloren hatten. Den bleiernen Jahren der Salazar-Diktatur bis 1968 folgten die wenigen Jahre der noch repressiveren Caetano-Zeit, bis dieser Diktator mitsamt seiner Geheimpolizei im Jahre 1974 von der Nelkenrevolution hinweggefegt wurde. Caetano ging ins brasilianische Exil, um in Rio de Janeiro bei seinen Gönnern von der damaligen faschistischen Militärdiktatur seinen Lebensabend zu genießen, während er sein portugiesisches Heimatland als Armenhaus Europas mit einer Analphabetenrate von 40 Prozent zurückließ.
Nach den Jahrzehnten des langsamen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwunges bis 2010 findet sich Portugal nun in einer von der EU-Sparpolitik mitverursachten Regression wieder, die gerade die Alten und wirtschaftlich Schwachen, also auch deren Enkel, mit ganzer Härte trifft. Kinder gibt es im Viertel praktisch keine mehr, die Jugendarbeitslosigkeit in Portugal liegt jetzt wieder bei 34 Prozent, und die ohnehin nicht üppigen Renten sind landesweit um durchschnittlich zehn Prozent gekürzt worden. Die eingeschränkten Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen senken auch die Lebenserwartung. Portugal ist wieder das ärmste Land Westeuropas. Wer auch immer einen schlecht bezahlten Job ergattern kann, gilt als Glückspilz. Und wer wie Miguel noch dazu über die Möglichkeit verfügt, in einem spekulativen Berufsfeld wie dem des Immobilienmaklers tätig zu sein, der hat bei den Nachbarn schon den Nimbus des Erfolgreichen – auch wenn Miguel die meiste Zeit damit verbringt, im Internet zu surfen und Ferienappartements für kleine Provisionen an den Mann oder die Frau zu bringen. Die Alten vor seinem Bürofenster, dort draußen in der Rua do Paraiso, sie könnten auch seine Großeltern sein, und so blicken sie tatsächlich auch verstohlen zu ihm durch das Bürofenster hinein, dem Gewinner, dem mit Geld Beschiedenen. »Wie gesagt«, meint er und schiebt sein Kinn vor in Richtung des alten Mannes, der sich gegenüber vor das Friseurgeschäft gesetzt hat, »in zehn Jahren sieht das hier ganz anders aus«.
Und plötzlich wird mit eisiger Konsequenz deutlich, was Miguel diese magische Zahl der Zehn bedeutet. Zehn Jahre noch, dann wird die Rua do Paraiso, dann wird das ganze Viertel Alfama seine weißhaarigen Bewohner verloren haben an das natürliche Dahinsterben, an das Verschwinden dieser letzten Generation von hier Verwurzelten. Alfama und die Rua do Paradiso werden – wie so viele andere Viertel und Straßen europäischer Metropolen – gewonnen haben an schickem Glanz, an tollen Lofts, an angesagten Galerien. Miguels Voraussagen von einer lohnenden Geldanlage werden ihn nicht Lügen gestraft haben. Gewonnen haben wird dann auch die Geschichtslosigkeit, die ein unbeschwertes Genießen für die neuen und wohlhabenden Bewohner erst möglich macht. Denn der bröckelnden Putz und die Alten aus der Rua do Paraiso, beide werden dann unwiederbringlich der Vergangenheit angehören.