Nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 erklärte der Schriftsteller Stephan Heym resigniert, die DDR wäre künftig nur noch »eine Fußnote in der Weltgeschichte«. Tatsächlich wurde der zweite deutsche Staat wenige Monate später beerdigt.
Auch aus heutiger Sicht kann das Ergebnis der Wahlen nur als absurd bewertet werden: Die Mehrheit der Bevölkerung stimmte gegen ihre eigenen Interessen. In der offiziellen Geschichtsschreibung wird die Stimmabgabe als »erste freie Wahl in der DDR« gefeiert. Die (damals noch grüne) Politikerin Jutta Ditfurth stellte in ihrem 1992 erschienenen Buch »Lebe wild und gefährlich« jedoch eine berechtigte Frage: »Wie ›frei‹ sind Wahlen, in deren Vorfeld die politische Landschaft durch Geld, Beratungspower und Mediengewalt zum Abklatsch der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft deformiert wird?«
Von der Wirtschaftskrise zum nationalen Einheitsrausch
Die DDR steckte Ende der 1980er Jahre zweifellos in einer schweren Wirtschaftskrise – auch wenn von dem später gern behaupteten bevorstehenden Staatsbankrott keine Rede sein konnte. Es stimmt allerdings, daß die DDR – wie ausnahmslos alle osteuropäischen Volksdemokratien – in den 1970er Jahren westliche Kredite aufgenommen, sich also beim Gegner hochverschuldet hatte.
Die DDR-Führung hatte bis zuletzt versucht, zur Spitzengruppe der hochtechnisierten Industriestaaten aufzuschließen und so aus der wirtschaftlichen Talsohle herauszukommen. Der Entwicklungsschub, zum Beispiel auf dem Gebiet der Halbleitertechnologie, erfolgte jedoch auf Kosten der Substanz anderer Volkswirtschaftszweige. Als 1989 klar wurde, daß das Konzept
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Anschluß
Der italienische Ökonom Vladimiro Giacché hat Ende 2013 dem italienischen Publikum eine längst überfällige Studie über die reale Natur der deutschen Vereinigung vorgelegt und einen wichtigen Bogen zur aktuellen Problematik Europas geschlagen. Seine Studien der Dokumente und seine Recherchen in Deutschland wurden für den Autor zu einer »außergewöhnlichen und in mancher Hinsicht bestürzenden Entdeckungsreise«, die ihn zwangen, viele seiner ursprünglichen Auffassungen über dieses »für das heutige Europa so bedeutsame Geschehen« zu revidieren. Auch in der italienischen Öffentlichkeit ist bisher das bundesdeutsche Siegernarrativ vorherrschend, das die DDR-Erfahrung dämonisiert und den Vereinigungsprozeß als eine demokratische Meisterleistung darstellt. So wie es uns auch die Berliner Propaganda beim jüngsten 25. Jahrestag des Mauerfalls noch einmal vormachte und sicher auch im nächsten Oktober wiederholen wird. Aber Giacchés nun von Hermann Kopp in gutes Deutsch übersetzte Darstellung der Dinge (»Anschluß – Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas«, Laika Verlag, 168 Seiten, 22 €) erzählt uns anderes, was zwar ein alternativ informierter deutscher Leser wohl wissen dürfte, denn die deutsche Literatur über die Währungsunion, die Abwicklung einer ganzen Volkswirtschaft via Treuhand, die Schuldenfrage, die Abwicklung der Eliten und über die wirtschaftlichen Folgen für Ost und West liegt ja allen vor. Aber weiß man wirklich in München oder Baden-Baden, was es mit der »Rückgabe vor Entschädigung« auf sich hatte oder wie man die Universitäten im Osten abgewickelt hat? Wollte man es je wissen? Giacché widmet vor allem auch der politischen Funktion der deutschen Währungsunion die gebührende Aufmerksamkeit im Hinblick auf ihre Vorreiterrolle für die europäische: den €uro. Und macht auf den »roten Faden« aufmerksam, der »die Roßkur, der die Wirtschaft Ostdeutschlands unterworfen wurde, mit den Hartz-Reformen und den ›Hausaufgaben‹, welche die Krisenländer machen sollen«, verbindet. Die Rezepte sind heute in ganz Europa immer die gleichen: Privatisierung und Lohnsenkung. Das gilt vor allem auch für Griechenland, dem Merkel und Steinmeier expressis verbis das »Modell der Treuhandanstalt« auferlegen wollten, »um eine regierungsunabhängige Privatisierungsagentur [zu gründen], die auch mit ausländischen Experten besetzt ist«. Griechenland müsse endlich die nötigen Opfer bringen, ohne viel zu klagen; »schließlich habe auch Ostdeutschland … einen radikalen Strukturwandel bewältigen müssen« (Merkel 2011). Eben davor möchten sich die Griechen heute schützen. Giacché plädiert deshalb für eine radikale Veränderung der europäischen Politik mit dem Ziel, die Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften zu verringern, denn das ist der einzige Schutz vor einer unkontrollierten Implosion des €uro-Währungsgebietes.
Susanna Böhme-Kuby
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gescheitert war, machte ein immer größerer Teil der DDR-Bürger Anstalten, dem niedergehenden Staat den Rücken zu kehren, und sah seine Zukunft im wirtschaftlich prosperierenden Westen. Die SED-Führung war gegenüber dieser Entwicklung hilflos und verlor zunehmend ihren bis zum Frühjahr 1989 durchaus noch vorhandenen Rückhalt in der Bevölkerung.
Die sich in den 1980er Jahren in der DDR herausbildendenden oppositionellen Zirkel fristeten anfangs ein Nischendasein. Das änderte sich erst im September 1989. Da sowohl die Existenz der DDR als auch die Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums von den meisten Gruppen damals nicht in Frage gestellt wurden, konnte sich vor allem das politisch heterogene Neue Forum mehrere Monate lang als neuer Hoffnungsträger etablieren. Ihr Mitbegründer Reinhard Schult, erklärte damals: »Die Wiedervereinigung ist für uns kein Thema. (…) Wir wollen keinen Anschluß etwa als zwölftes Bundesland.« Die Führung der SED hätte wahrscheinlich noch in dieser Phase einen geordneten Rückzug antreten können. Das Ende der DDR hätte dies nicht mehr verhindert, wohl aber einen breiteren Verhandlungsspielraum für die Bedingungen des Zusammengehens mit der Bundesrepublik ermöglicht.
Ab November 1989 setzte eine zunehmende Rechtsentwicklung der anfangs hauptsächlich von oppositionellen Zirkeln getragenen Montagsdemonstrationen ein. Sie wurden bald nach der Grenzöffnung Ziel deutschnationaler und faschistischer Polittouristen aus der alten Bundesrepublik, die im sozialen Bodensatz der DDR-Gesellschaft schnell willige Handlanger fanden. Der ehemalige SS-Unterscharführer Franz Schönhuber, damals Vorsitzender der in der DDR verbotenen Partei Die Republikaner, prahlte, trotz Einfuhrverbotes 100.000 Stück Flugblätter in die DDR geschafft zu haben. Die NPD folgte dem Beispiel. Nicht selten wurden die ursprünglichen Initiatoren von Demonstrationen später von rechtsradikalen Teilnehmern als »rote Schweine« beschimpft und körperlich attackiert.
Westliche Medien taten das Ihre, die immer mehr dominierenden deutschnationalen Losungen weiterzuverbreiten. Die Bundesregierung nutzte die Situation zu einem finalen Schlag gegen die DDR und forderte als Vorbedingung für die Gewährung von dringend benötigten Krediten immer neue »politische Reformen«, darunter auch »freie Wahlen«. Diese Kredite wurden der Modrow-Regierung trotz ihres permanenten Einknickens aber nie gewährt. Als am 28. November Kanzler Helmut Kohl sein Zehn-Punkte-Programm zur Deutschlandpolitik vorlegte, war das Schicksal der DDR besiegelt.
Widerstand und Kapitulation
In der gegenwärtigen Geschichtsschreibung wird kaum erwähnt, daß es durchaus eine Minderheit von Leuten in Ost und West gegeben hat, die gegen den zunehmend herumwabernden Nationalismus und die Vereinigungshysterie ankämpften.
Unmittelbar nach der Grenzöffnung stellte sich beispielsweise eine Gruppe Autonomer den nach Westberlin flutenden DDR-Bürgern mit einem Transparent entgegen: »Die Freiheit, die sie meinen, ist die der Deutschen Bank«. Als der Westberliner Bürgermeister Momper gemeinsam mit weiterer Politprominenz den Mauerfall durch öffentliches Absingen der Deutschlandhymne abfeierte, ging dies in einem Pfeifkonzert unter. Am 28. November startete der von 31 DDR-Bürgern getragene Aufruf »Für unser Land«, den in den Folgewochen mehr als eine Million DDR-Bürger unterzeichneten. Anfang Dezember 1989 kam es bei Montagsdemonstrationen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Deutschen Einheit. Am 14. Dezember gingen in Erfurt 10.000 Menschen »für Demokratie und eine mündige DDR« auf die Straße. Am 19. Dezember demonstrierten in Ost-Berlin 50.000 Menschen »gegen Wiedervereinigung und Ausverkauf des Landes«; in Rostock zeitgleich 30.000 Menschen unter der Losung: »Dieses Land gehört uns, wir müssen seine Zukunft in die eigenen Hände nehmen«. Eine weitere Demonstration für eine souveräne DDR fand am 26. Dezember in Schwerin statt. Nachdem das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow von Rechtsextremisten verwüstet worden war, versammelten sich dort am 3. Januar 250.000 Antifaschisten zu einer Protestkundgebung.
Bundeskanzler Helmut Kohl war am 19. Dezember bei seiner Anschlußrede in Dresden zwar von 10.000 zum Teil eigens herangekarrten »Helmut«-Brüllern umjubelt; es demonstrierte aber auch eine Minderheit gegen ihn. In deren Aufruf hieß es: »Laßt uns diesem freiheitlich-demokratischen Monstrum aus einer abendländischen Metropole (…) den Bissen ein wenig versalzen, bevor es ihn schluckt! (…) Wir brauchen keinen bundesdeutschen Mief, um die Situation unseres Landes zu beurteilen.«
Die SED übte sich in dieser Zeit überwiegend in Kapitulantentum. Nach dem Rücktritt von Generalsekretär Erich Honecker am 18. Oktober hatten Egon Krenz und Hans Modrow zwar am 19. November erklärt, eine Wiedervereinigung Deutschlands stünde nicht zur Diskussion, nach dem Parteitag im Dezember 1989 propagierte jedoch eine neue Generation hoffnungsvoller Funktionärssprößlinge einen »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Wohin der Weg führen sollte, wurde vorsichtshalber nie definiert. Der Dresdner Oberbürgermeister Berghofer, damals noch als Hoffnungsträger der Partei gehandelt, genehmigte jedenfalls schon am 18. Dezember die Eröffnung der ersten Filiale einer westdeutschen Bank auf DDR-Territorium. Als der Noch-Ministerpräsident Modrow sich als Ergebnis eines Besuches in Moskau am 30. Januar ebenfalls zur deutschen Einheit bekannte, liefen der bereits arg gebeutelten PDS nun auch Mitglieder davon, die bisher auf die Verteidigung der sozialen Errungenschaften der DDR gesetzt hatten. Und die Initiative für eine Vereinigte Linke (VL), radikales Schmuddelkind der Bürgerbewegung, verließ wutentbrannt die nur wenige Tage vorher installierte »Regierung der nationalen Verantwortung«.
Im Programm der PDS vom Februar 1990 war zu lesen: »Der Kapitalismus ist wirtschaftlich effizient, und er hat die Weltzivilisation bereichert.« Diese Anbiederung half den frisch gewendeten Einheitssozialisten aber gar nichts. Im Prozeß der Re-Kapitalisierung war ihnen bereits die Rolle des rückwärtsgewandten Buhmannes zugeschrieben, dem man die Schuld am bevorstehenden Wirtschaftscrash bequem in die Schuhe schieben konnte.