Wir spazieren zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Sie befindet sich seit längerem in einer Phase der Episierung – große Romane von Balzac und Dostojewski erscheinen in dramatisierten, besser: theatralisierten Fassungen und beherrschen die Szene, und das machen drei herrschende Regisseure im wesentlichen Maße: Hausherr Frank Castorf, von dem uns fast gar nichts mehr überrascht, sein anarchischer Kammerspieler René Pollesch und neuerdings der zum Regisseur umgeborene frühere Starschauspieler Herbert Fritsch.
Daß Dostojewski für Castorf eine besondere Größe ist, hat er längst bewiesen mit einer Reihe von Theatralisierungen. Er hat Nerven für das Ekstatische des großen Russen, für die ausladende Größe der Geste im sozialen Verhalten, im Ansturm wie in der Verzweiflung, für die ein- und umgreifende Kraft großer oder auch niedergehender Ideologien, seien sie als Soziallehre philosophischer Autorität oder schlicht als vergreiste Religion getarnt. »Die Wirtin« nach Fjodor Dostojewski war jedoch schwer zu ertragen und wird wohl kaum Langzeit-Resonanz, das heißt eine nachhaltige Rezeption finden. Es war ein Fest der Langeweile und des Unverstehens, für das als Metapher ein kaum lesbares Programmheft im Dunkelrot faulen Blutes gestanden hat. C. am Ende seiner provokativen Kraft? Sieben durchaus bewährte Schauspieler, um nur Kathrin Angerer und Bärbel Bolle oder Marc Hosemann und Volker Spengler zu nennen, machten den Abend wenigstens durch Schauspielkunst erträglich – vom großen Geist Dostojewskis kam kaum etwas herüber.
Auch Ibsens Stücke haben Castorf mehrfach interessiert, zuletzt das Schauspiel in drei Aufzügen »Baumeister Solness«, worin der Dramatiker seine Figuren »namentlich als Wirklichkeitsmenschen betont zu sehen« (27. Dez. 1892) die Absicht hatte. Das ist ihm auch gelungen und den Inszenatoren im wesentlichen auch. Es geht um Möglichkeiten, das Leben und diese Welt, besser: Sozialordnung zu nutzen: Will man einfach nur mitlaufen oder mit Visionen und Energie Welt verändern? Große Ansprüche und bescheidene Kräfte bei sich selbst, das sind Widerspruch und Klein-Tragödie bei Solness, die auch Irritiert-Komisches aufweist. Wieder die Angerer und Hosemann in den konflikttragenden Rollen – freilich volksbühnengemäß, was heißt: scharfe und oft laute Konfliktstellung und Mängel an psychologisch-realistischer Breite und Tiefe.
Nun zu Herbert Fritsch, der seine »Oper« zur Schau stellte: »Ich werde eine Oper machen!« Und das Werkchen heißt nun »Ohne Titel Nr. 1«. Es hätte auch heißen können: »Ohne Geist Nr. 2«, denn »Murmel Murmel« hatte ja auch keinen, wenn auch einigen szenischen Witz, der nicht ohne Geist auskommt. Und dann erzählt er: »Ich hatte da Ideen: Die Musik würde dabei im Zentrum stehen … und Schauspielerei, die Schauspieler selbst … und Bilder!« Da standen Malewitsch, Pollock, Rothko Pate, und alles zerrann im dunklen Irgendetwas. Das sei »aber doch immer Sprache«. Freilich eine Sprache der Stummen, von der kaum einer etwas versteht, außer den Stummen selbst. Ich gehöre gewiß nicht zu jenen, die der Kunst einen Zweck zuschreiben wollen. Aber irgendeinen Sinn und noch mehr Form beziehungsweise Gestalt sollte Kunst haben, sonst bleibt sie unverbindliches Allerlei. Da hat einer pure Isolationskunst gemacht, womöglich nur noch für sich selbst. Doch auf Staats- beziehungsweise Gesellschaftskosten! In letzter Instanz auch noch gänzlich ohne Witz!
Genausowenig Sinn, etwas mehr Witz: die alte Lincke-Operette »Frau Luna« (1899) mit diesem schrecklichen, leider immer wieder selbst von den Philharmonikern aufgelegten Gassenhauer von der ach so bedeutenden, inzwischen gar schwer zu atmenden »Berliner Luft«. Damit ist die unserer Straßen und die der alten Schmiere gemeint. Was für ein Aufwand, um so eine Banalität, die sie bleibt – trotz Jux und Artistik im Himmel des Theatron, wenn Herbert Fritsch da eine halbartistische Fahrradnummer losfährt. Da ist Berlin auf dem Mond, und so klingt es auch: Einige Schauspieler und zwei Sänger (Ruth Rosenfeld und Hubert Wild) bewältigen mit viel Krach etliches an – meist geistlosem, doch zotenreichem – Text und Musik. Lemurenhaft angezogene Wesen, die – wieder – irgend etwas darstellen sollen und schweinigeln: Niveau des Wortschatzes etwa das »Ficksal«! Trotz aller ziemlich gut gekonnten »Einfälle« sind angesichts der miesen Geschmacklosigkeiten die zwei Stunden schwer zu ertragen. Es ist fast eine – wenn auch krachende – Totenbeschwörung einer verfaulenden Welt wie ihrer Welt, dieses Erdballs und seiner verantwortungslosen Menschheit mit teuflischem Gelächter. Der Ordnung halber seien die wichtigsten Verantwortlichen dieses Mummenschanzes neben Fritsch genannt. Musik: Ingo Günther mit LUNA-Orchester, Fassung: Sabrina Zwach, Kostüme: Victoria Behr.
Freilich kann man sich bei den Balzac-Folgen von Castorf und Martin Wuttke etwas erholen. Da ist viel Humor dabei, doch eben auch eine soziale Welt und ein ins Dramatische gehobener epischer Weltstrom. Honoré de Balzac und das Theater – so ganz neu ist des Weltepikers Platz auf der Bühne nicht. Immerhin gibt es Stücke wie »La Marâtre« (1848, dt. Die Rabenmutter) oder »Le Faiseur« (1848, Der Betrüger), und »Le Père Goriot« (1834, Vater Goriot) ist auch dramatisiert worden. Nun hatte sich im Verlaufe der letzten einundeinhalb Jahre die Volksbühne an eine Balzac-Trilogie gemacht: Im Frühherbst 2013 »Glanz und Elend der Kurtisanen« (Regie: René Pollesch), »La Cousine Bette« im Dezember 2013, Regie: Frank Castorf), und am 24. April 2014 »Trompe l’amour« (Regie: Martin Wuttke). Das ist ungeheuer angesichts der Arbeit, die so eine Umschmelzung einschließlich szenischer Umsetzung erfordert. Meine volle Anerkennung!
Just die beiden Romane »Verlorene Illusionen« und »Glanz und Elend« innerhalb der vielbändigen »Comédie humaine« verstehe ich als Einheit, zumal einige Personen in beiden vorkommen. Ich hatte 1957 in einem viersemestrigen »Seminar für Weltliteratur« bei Hans Mayer in Leipzig den Studiovortrag zu diesem Werkkomplex gehalten und die Einheit der beiden Werke hervorgehoben. Das hatte Mayer als neu in der Werkgeschichte und -deutung erklärt. Es hat sich seitdem erhalten. Schade, daß sich die VB das hat entgehen lassen. Man hätte auf »Trompe l’amour« verzichten können.
Eine Verbindung zu »Glanz und Elend …« und »Trompe …« gibt es indes auch – über den Sträfling. Zurück geht er auf das Verbrechergenie Eugène François Vidocq, der zum Pariser Polizeipräsidenten wurde und den veralteten Polizeiapparat auswechselte und modernisierte. Ja, der wußte Bescheid über das moderne Verbrechen wie auch das traditionelle. Er kehrte bei Balzac als Vautrin zurück. Die markante Fabel ist in den Erzählstrom eingebunden. Balzac selbst dazu: »Das Wasser des Stroms bildet eine Art flüssigen Boden.« Das ist eine grandiose Metapher weltliterarischen Ranges, würdig einer, dieser »Comédie humaine«. Das Theater von Castorf, Pollesch und Wuttke und ihres engagierten Schauspieler-ensembles hatte einige Kraft darauf verwenden müssen, diesen Strom auf Wellen zu bringen – sie kamen langsam, zögerlich, steigernd zum Wogen auf dem festen Boden der Bühne, die noch immer mal wieder Welt bedeuten kann – hier tat sie es schlußendlich in der Tat und auf dem Boden einer sich auflösenden Sozialwelt von aufregender Kritikwürdigkeit.