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Titel716

Ratlose Herrschaften  (Manfred Sohn)

Die Augen im wohlgenährten Gesicht sind schreckgeweitet, der Mund ist schief nach unten verzerrt. Der gut angezogene Mann auf dem Titelbild des Economist vom 20. Februar hält in seiner Hand eine Bazooka, ein inzwischen bei allen Armeen der Welt verbreiteter Einmann-Raketenwerfer mit der bezeichnenden Aufschrift »Keynes Industries Inc«, aus der drei einzelne Dollarscheine schlapp zu Boden flattern.

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe des Blattes, das so eine Art Leitmedium für Manager und Wirtschaftsminister weltweit geworden ist, widmet sich der zunehmenden Sorge, dass die Herrschaften, die den kapitalistisch vereinheitlichten Globus regieren, keine Mittel mehr finden, um die immer deutlicher werdende Gefahr einer neuen Rezession noch abzuwehren. Die über mehrere Druckseiten dort aufgefächerten Daten sind in der Tat Anlass genug für zerknirschte Gesichter: Nicht nur in den kapitalistischen Zentren USA, EU und Japan, sondern auch in den Ländern, die als sogenannte Hoffnungsträger gelten, also unter anderem China und Brasilien, sinken die Wachstumsraten, brechen die Aktienkurse stückweise ein und erhöhen sich die schon jetzt chronisch hohen Arbeitslosenzahlen. Was also ist zu tun? In der letzten vergleichbaren Situation haben die vom ökonomischen Absturz bedrohten kapitalistischen Nationen zweierlei getan: Sie haben den Zentralbanken, die für die Geldversorgung zuständig sind, freie Hand gegeben, um die Wirtschaften mit billigem Geld zu fluten, indem die Zinsen, die sie verlangen, immer weiter gesunken sind. Sie haben außerdem große schuldenfinanzierte Programme aufgelegt, um die einbrechende private Nachfrage staatlich auszugleichen. Hätten sie Marx studiert, hätten sie gewusst, dass im Kapitalismus die Mittel zur Lösung der aus seinem inneren Mechanismus kommenden Krisen diese Krisen nur dadurch vorübergehend heilen, dass sie ungewollt die Voraussetzungen für kommende noch größere Krisen schaffen. Dieser Punkt ist erreicht. »Die Waffen der reichen Welt gegen die ökonomische Schwäche«, befürchtet das Londoner Blatt, »wirken nicht länger.« Besonders die Zentralbanker, aber auch die Politiker machten den Eindruck, sie seien inzwischen »out of ammunition« – hätten also ihr Pulver verschossen. Für die Zentralbanken liegt das auf der Hand: Zinssätze von unter Null sind dauerhaft nur dann möglich, wenn der Besitz von Bargeld verboten wird oder das Bargeld massiv durch staatlich erzeugte Inflation entwertet wird. Ansonsten werden Unternehmen wie Privatpersonen im Kapitalismus ihr Geld, statt es zur Bank zu tragen, wo dann ein Zinsabschlag erfolgt, zu Hause lagern. Wenn ihnen, wie zur Zeit nicht zufällig diskutiert wird, der Besitz von Bargeld untersagt oder erschwert wird, weichen sie eben in Gold aus – daher der zur Zeit ansteigende Preis für dieses und andere gut lagerfähige Edelmetalle.


Das hiesige Handelsblatt spricht im Geleitzug dieser Verzweiflung folgerichtig am 10. Februar davon, dass die Notenbanken weltweit »am Ende ihres Lateins« angelangt seien. Nach der Nullzinsentscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) verweist die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 12. März kritisch darauf, dass sie »Inflation und Wirtschaftspolitik in sieben Jahren ultralockerer Geld-politik nicht in Schwung gebracht« hat und warnt: »Wenn die Zentralbank nicht aufpasst, könnte sie bald als so hilflos wahrgenommen werden wie die Bank von Japan.«


Nachdem so die Zentralbanken faktisch schon aus dem Spiel geschleudert sind, bleibt der direkte staatliche Eingriff. Nach herrschender Logik geht das nur über eine erneute Staatsverschuldung – deshalb die Rückkehr von Keynes auf das Titelblatt des Economist. Aber auch hier, schreibt das Blatt, sind die Munitionsdepots in den letzten Waffengängen geplündert worden: »Die öffentliche Verschuldung in Amerika stieg von 64 Prozent des Bruttosozialprodukts im Jahre 2008 bis 2015 auf 104 Prozent, in der Euro-Zone von 66 Prozent auf 93 Prozent und in Japan von 176 Prozent auf 237 Prozent.« Trotzdem ziert die letzte Seite des Hauptartikels ein Bild mit Hubschraubern, die kistenweise Dollars abwerfen – empfohlen werden große Programme zur Finanzierung der maroden Infrastruktur der kapitalistischen Länder oder sogar massive steuerliche Anreize für Lohnerhöhungen. Die Verzweiflung der Herrschenden muss groß sein, denn ihr Leitmedium schreibt, das würde selbstverständlich eine »Lohn-Preis-Spirale der Sorte auslösen, der zu entkommen in den 1970er Jahren die damaligen Politiker so schwer gekämpft haben«. In der Tat: Die Lösungen, die jetzt diskutiert werden, gab es damals schon einmal. Ihre Wirkungslosigkeit hat bekanntlich zu einer Abkehr von Keynes und zu einer Hinwendung zu Friedmann und damit zum sogenannten Neoliberalismus geführt. Das Ergebnis ist – siehe oben – eine drohende Krise noch globaleren und größeren Ausmaßes.


Auch eine massive Vermögensumverteilung mag vorübergehend Genugtuung verschaffen, wird aber wenig helfen, weil viele Vermögenswerte Papierwerte sind, denen keine entsprechenden Gebrauchswerte gegenüberstehen. Sie werden sich in Goldschätzen, Immobilien oder anderen archaischen Schatzbildungen verflüchtigen und so gutmeinenden Politikerinnen und -politikern unter den Händen zerrinnen. Mit den Bazookas des kapitalistischen Geldsystems wird die Krise nicht mehr behebbar sein, weil die Zentralbanker, Politiker, Reichtumshorter und andere Herrschende nicht begriffen haben, dass die mangelnde Nachfrage nichts anderes ist als die Widerspiegelung der schrumpfenden Wertsubstanz in der stetig anwachsenden Menge an Waren. Da Millionen Unternehmen durch die Konkurrenz gezwungen sind, menschliche Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess zu vertreiben, nur sie aber im kapitalistischen Sinne den später zu verkaufenden Waren Wert zusetzt, schrumpft weltweit die Wertmasse, deren Ausdruck das Geld und die in ihnen ausgedrückten Warenpreise sind. Die künstliche Schaffung von Geld, um so dem Schrumpfen der von ihm ausgedrückten globalen Wertmasse entgegenzuwirken, erinnert an Münchhausens großspurige Lüge, er hätte sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Ob Zentralbanken oder Finanzminister: Mögen ihnen Wähler diese Nummer glauben, die reale Entwicklung wird sie ihnen nicht abnehmen. So sehr wir als abhängig Beschäftigte leiden werden unter den verzweifelten Verrenkungen, die jetzt ökonomisch auf uns zukommen – intellektuell wird das für alle in der Tradition Marx Stehenden ein Genuss sein.


Und selbst aus den Reihen des Handelsblattes gibt es Hoffnung zu vermelden: Am 17. Februar hat diese Zeitung einen Schülerwettbewerb unter dem Motto »Eine Welt ohne Geld?« ausgeschrieben. Die Erwähnung solcher Begriffe wie »Wert« und »abstrakte Arbeit« wird allerdings wohl zum Gewinnen des Preisgeldes von 50.000 Euro wenig hilfreich sein.