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Titel716

Hochbetagte leben länger  (Wolfgang Helfritsch)

Sicher, mit fortschreitendem Alter und der amtlichen Einordnung in die bemitleidenswerte Kategorie der »Hochbetagten« spürt man nicht nur den Verschleiß der Drehgestelle und die wachsenden Unsicherheiten beim Stolpern, sondern auch die freundliche Fürsorge der Mitmenschen. Nein, nicht aller, aber einiger. Junge Leute bieten einem, falls sie zufällig in der U-Bahn von ihren digitalen Handgeräten hochschrecken und versehentlich in das von repräsentativen Falten zerfurchte Antlitz blicken, einen Sitzplatz an. Attraktive Gegenüber-Damen reagieren auf ein unbeholfenes Lächeln mit der Frage: »Opa, kann ich dir irgendwie helfen?«

Das beginnt schon morgens in der Familie. Die Zeiten, in denen einem die frühere Verlobte und spätere Angetraute liebkosend über den vollen Schopf strich, werden längst durch die Frage »Hast du deine Tabletten schon genommen?« ersetzt. »Gleich«, antworte ich, »aber lass‘ mich doch erst mal in die Zeitung gucken! Hast du meine Brille irgendwo gesehen?« »Sobald ich auf meine getreten bin, schau‘ ich mich nach deiner um«, antwortet sie zuversichtlich. Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht, aber meine Brille ist ein Fluchttier.


»Hast du gut geschlafen?«, frage ich zwischen Rührei und Himbeermarmelade die Frau, die mit mir eine Postanschrift und die Bestattungsvorsorge teilt. »Es ging so«, antwortet sie nachdenklich. »Gegen drei bin ich aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, ich hatte Zahnschmerzen.« »Das kann mir nicht mehr passieren«, erwidere ich frohgemut. »Meine Zähne und ich, wir schlafen schon seit langem getrennt.« Das ändert nichts daran, dass ich nachts mehrmals raus muss. Unserer betagten Katze ist das angenehm, wenn meine Schlafunterbrechung mit ihrer Nachtversorgung verbunden wird. Sie hat‘s auch mit den Drüsen, wenn auch mit anderen.


»Was haben wir heute zu erledigen?«, fragt meine Frau und sucht nach dem Jahreskalender. Er findet sich schließlich im Kühlschrank neben der fettarmen Butter und einer Tube Gelenkschmiere. Leider haben wir beide vergessen, die Termine einzutragen. »Macht nichts«, sage ich fröhlich und falle vor meiner einst Auserwählten ächzend auf die Knie. »Donnerwetter«, sagt sie, »kannst du das nochmal wiederholen?« »Gern«, sage ich. »Vorausgesetzt, du hilfst mir erstmal wieder hoch!«


Morgen habe ich wieder einen Termin bei meiner Hausärztin. Sie will die Befunde des Internisten, des Urologen und der Augenärztin und die Resultate ihrer eigenen Abzapfaktionen mit mir durchsprechen. Ich freue mich schon auf die Auswertung. Auch auf die Gespräche mit den Rentnern im Wartezimmer. Danach weiß ich wieder, wie gesund ich noch bin.


Sicher, meine Wirbelsäule sorgt dafür, dass ich jährlich einen Zentimeter kleiner werde. Das hat aber auch einen Vorteil: Ich kann mir ausrechnen, wann ich weg bin. Ich habe also noch etwas Zeit.


Überhaupt, mit meinem Lebensverlauf kann ich zufrieden sein. 1945 war ich für die Reserve der Endsieger noch zu jung, und in der DDR fehlte es nicht nur an Bananen und Nachschalldämpfern, sondern auch an Kriegsbeteiligung. Und meine Kinder habe ich nicht an irgendwelche Fronten und fernen Flüsse verabschieden müssen. Das ist inzwischen längst Geschichte. Wir können uns ja nicht Jahrhunderte lang aus dem erbitterten Kampf um die Menschenrechte heraushalten.


Ich konnte studieren, obwohl meine Eltern weder Immobilien noch Aktien besaßen, und Lehrer und Schuldirektor war ich mit Begeisterung. Zu der Zeit hätte ich es mir nicht träumen lassen, mal gern Rentner zu sein. Heute Lehrer – bloß nicht. So viele verwöhnte Kinder und mit Anwälten drohende Eltern habe ich nicht verdient.


Neulich war ich bei einem Oldie-Gespräch mit DDR-Sport-Ikone und Fernsehliebling Heinz-Florian Oertel. Der bewegte sich mit zwei Krücken mühsam aufs Podium, erzählte locker von seinen komplizierten Hüftoperationen und erinnerte die reichlich erschienenen Zuhörer daran, dass und warum so viele beigetretene Bundesbürger auf den schönen Vornamen »Waldemar« hören.


Seine Altersphilosophie fasste er ungefähr so zusammen: Dass wir alle älter und morscher werden, ist kein Geheimnis. Aber immer mehr fahren heutzutage mit dem Rollator flott auf die 100 zu. Und jeder sollte das tun, was er noch kann, und darüber hinaus vielleicht ein kleines bisschen mehr!


Vor dieser Lebenshaltung ziehe ich meinen nicht vorhandenen Hut. Wie formulierte es doch weiland ein nicht unbekannter Staatsmann treffend ungefähr so: Hochbetagte leben länger!