Die Kantuta-Blume (Cantua buxifolis) war den Inkas heilig. Ihre Farben sind die der rot-gelb-grünen Trikolore Boliviens. Auf dem Kantuta-Platz im brasilianischen São Paulo treffen sich sonntags viele der 30.000 bolivianischen Immigranten. Andine Rhythmen, Quinoa-Körner zum halben Preis, bolivianische Küche und an den Wänden Zitate aus Eduardo Galeanos »Las venas abiertas de América Latina« (Die offenen Adern Lateinamerikas).
Auch am trüben 21. Februar füllt sich das Areal. Es ist der Tag des Referendums zur Verfassungsänderung »nebenan«, in Bolivien. Es geht um den Artikel 168 der jungen Charta Magna von 2009, um die Frage, wie oft ein gewählter Präsident nebst Vizepräsident wiedergewählt werden darf. Konkret: Kann das Gespann Juan Evo Morales Ayma und Alvaro García Linera 2020 ein drittes Mal kandidieren? Die übrigen Verfassungsprinzipien des »buen vivir« (sinngemäß: »gut zusammen auskommen«, alle Übers.: W. G.) blieben davon unberührt (vg. »Sumak Kawsay«, Ossietzky 20/2008).
Ich fragte »unsere« Bolivianer. Mehrheitlich »evistas«, Anhänger von Evo Morales und wie dieser aus dem kargen und von originärer Bevölkerung besiedelten »altiplano«. Sie sind für eine dritte Amtszeit (de facto die vierte des jetzigen Präsidenten, da seine erste in den Geltungsbereich der vorherigen Verfassung fällt). Seit seinem Regierungsantritt (2006) kehren viele in die Heimat zurück, da sich die dortige Lebensqualität kontinuierlich verbessert. Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums reduzierte die Armut schon in den ersten fünf Jahren von 60 auf 48 Prozent und die Arbeitslosigkeit von 8,5 auf stabile vier Prozent (2005: 8,15 Prozent). Drei Viertel der in São Paulo verbliebenen Immigranten haben für den Änderungsantrag gestimmt, ebenso ihre Kollegen in der argentinischen Hauptstadt.
Nicht so in Bolivien selbst: Die Ja-Stimmen blieben mit 48,7 Prozent knapp unter den Erwartungen der Regierung, das mehrheitliche Nein (51,3 Prozent) wurde aber klaglos akzeptiert. 2009 hatten immerhin 62 Prozent der Charta zur völligen Neugründung des »Plurinationalen Staates Bolivien« zugestimmt, von der man damals in Deutschland lesen konnte: »Die Verfassung ist so angenehm anders, dass man es als Europäer kaum glauben kann, … ein scharfer Kontrast zum EU-Vertrag von Lissabon, der so ziemlich das Gegenteil zur bolivianischen Verfassung darstellt.« (Sein, 9.10.09).
Dennoch und nicht ohne Häme sind deutschsprachige »Qualitätsmedien« mit der atlantischen Lesart bei der Hand: »Bolivianer haben genug von Evo Morales« (n-tv), »Ende der Ära Morales besiegelt« (Wirtschaftsblatt), »Evo Morales ausgezählt« (Freie Welt).
Morales’ sozialistisches Bolivien gilt nämlich heute sogar bei seinen verabschiedeten kolonialistischen Zuchtmeistern, darunter der Weltwährungsfonds und die Privatisierungsagentur Weltbank, als wirtschaftlich und sozial erfolgreichstes Land Lateinamerikas. Mit Wachstumsraten zwischen vier und sechs Prozent und stabileren politischen Perspektiven als in den sogenannten linken Staaten Venezuela, Ekuador, Brasilien und Uruguay. Resultat der Nationalisierung der natürlichen Ressourcen (Gas, Öl, Mineralien und Wasser) und des beispiellosen Aufbaus einer sozialen Infrastruktur »für alle«. Beide entsprechen der traditionell kommunalen Denkweise der andinen Indigenen und ihrer Vorstellung von einem gerechten Miteinander. Zum Missfallen der US-amerikanischen Unterminierungsstrategen und ihrer weißen bolivianischen Parteigänger in den fruchtbaren Departements des östlichen Tieflands. Bei seinem ersten Amtsantritt (2006) musste der Präsident noch höchstpersönlich eine Büroflucht des Regierungspalastes räumen lassen, in der nach altem Brauch der US-amerikanische Geheimdienst CIA nistete (mehr zu Morales’ resolutem Umgang mit US-Agenten in »Brandstifter verjagt«, Ossietzky 19/2008).
Als 2010 der über das Amt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Waffenlobbyist qualifizierte Dirk Niebel um den Abbau volkseigener bolivianischer Rohstoffe feilschte, beschenkte er, ganz deutscher Diplomat, Evo Morales mit einem Brocken der Berliner Mauer – als Omen aller sozialistischen Zukunft. Morales, der seine Kindheit in der unvorstellbaren Armut und Dürftigkeit der Aymará-Kleinbauern verbrachte und erst mit sechs Jahren erste Spanischkenntnisse auf argentinischen Zuckerplantagen erwarb, bewies (für Niebel unerreichbare) Klasse. Er warf den Unrat weder dem Überbringer an den Kopf noch in den Papierkorb, sondern beendete freundlich lächelnd die Unterredung. Die imperiale Arroganz, mit der Merkels NATO-EU noch 2013 Morales‘ Überfliegen Europas erschwert hatte, ist inzwischen demütigem Anstehen um bolivianisches Lithium gewichen.
Warum nun und nach so viel Erfolg an der vorbildlichen, selbstentworfenen Verfassung rütteln? Zu einem Zeitpunkt, zu dem so viele Regierungen um ihren Fortbestand kämpfen, die sich um alternative Modelle zum imperialistischen Neoliberalismus bemüht haben? In Venezuela, Brasilien, Ekuador und selbst auf Kuba? Und nach dem pünktlich orchestrierten Versuch der US-Botschaft, die aktuellen Machenschaften einer blondierten Lobbyistin dem Junggesellen Morales anzulasten, der mit ihr einst ein intimes Verhältnis hatte. Die Dame soll dem Präsidenten die Begünstigung des chinesischen Unternehmens CAMC abgeluchst haben, das de facto der bolivianischen Republik hohe Vertragsstrafen schuldet. Trotz aller Plumpheit dürfte die Mär so manche naive Wählerin vergrämt haben. Sie wird von der Opposition weitergesponnen, um die kriminellen Tricks der US-Marionette zu übertünchen, die deswegen jetzt vor Gericht steht.
Die Leute vom bolivianischen Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus) wissen, dass die jungen Strukturen des Landes personalisierte Kontinuität brauchen, auch über das Jahr 2020 hinaus. Der fatale Wechsel von Hugo Chávez Frias zum biederen Nicolás Maduro in Venezuela oder von Luiz Inácio Lula da Silva zur tugendhaften Technokratin Dilma Rousseff in Brasilien bestätigt die Notwendigkeit von Charisma und emotionaler Korrelation zwischen Wählern und Gewählten.
Die Bolivianer finden sich wieder in dem ehemals chancenlosen Hütejungen aus den Bergen. Und der »ist kein Machtmensch, eher ein Geschenk von Pachamama« (Mutter Erde), meinte einer auf dem Kantuta-Platz.
Evo Morales bleibt gelassen: »Wir haben eine kleine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg, ... der Kampf geht weiter« (teleSUR, 24.2.16). Seine jüngste Zustimmungsquote (8.3.16) liegt mit 58 Prozent (La Paz 68 Prozent) weit über dem Ergebnis des Referendums.