Die Verhängung von Todesurteilen während der Nazizeit ist vor allem mit dem Namen des berüchtigten Volksgerichtshofs verbunden, der oft unter dem Vorsitz des fanatischen Hitler-Anhängers Roland Freisler tagte. Vor allem in der Endphase des deutschen Faschismus – nach dem missglückten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 – liefen die Prozesse gegen Beteiligte und mutmaßliche Beteiligte auf Hochtouren. Mehr als 100 Todesurteile wurden in dem Zusammenhang verhängt. Dabei steht außer Zweifel, dass es sich bei dem Volksgerichtshof um nazistische Sondergerichtsbarkeit handelte, die gewissermaßen neben der herkömmlichen Justizhierarchie tätig wurde. Denn das in Leipzig ansässige Reichsgericht war selbstverständlich weiter existent und galt formell auch als das oberste Gericht. Auf der Ebene der Länder waren das die Oberlandesgerichte. In Berlin führt es die Bezeichnung Kammergericht.
Seit längerer Zeit gab es Hinweise darauf, dass auch das Kammergericht an der Durchsetzung nazistischen Ungeistes auf justizieller Ebene mitgewirkt hat. An konkreten Untersuchungen mangelte es bisher weitgehend. Es liegt noch keine zehn Jahre zurück, dass diese Thematik Gegenstand der Forschung wurde. Jetzt hat der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel, eine Dokumentation zu den vom Kammergericht verhängten Todesurteilen in den Jahren 1943 bis 1945 vorgelegt. Er weist nach, dass das einst so ehrwürdige Kammergericht sich in den Jahren des Faschismus auch zum willfährigen Büttel der Erhaltung der Nazidiktatur machte. Für den betreffenden Zeitraum sind 69 Todesurteile festgestellt. Die Anlässe der Anklageerhebung standen dabei in keinem Verhältnis zum Verfahrensausgang. Die Urteile wurden entweder im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee oder im Zuchthaus Brandenburg-Görden vollstreckt.
Es war nicht einfach, die verschiedenen Anklageschriften und Urteile aus diversen Archiven zusammenzutragen, da die Originalakten offensichtlich nicht mehr vorhanden sind. Die Dokumentation gewinnt vor allem dadurch an Authentizität, weil zahlreiche Urteile als Faksimile im Buch abgedruckt sind. Dies betrifft vor allem Todesurteile wegen Vorbereitung zum Hochverrat, wegen Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung oder Landesverrat. Als »wehrkraftzersetzende und feindbegünstigende Äußerungen« galten bereits Bemerkungen wie »Wir haben nicht mehr genug Flugzeuge. Was haben wir? Mist, Scheiße, Dreck!« oder bezogen auf einen Aufruf, dass sich die Jahrgänge 1927/1928 für die Offizierslaufbahn melden sollten: »Jetzt müssen sich die Kinder schon melden!« oder »Hitler hat auch Landesverrat geübt!«. Anderen wurde vorgeworfen, »Feindbegünstigung« dadurch vorgenommen zu haben, dass sie zu nachlässiger Arbeit aufgefordert oder »zu Sabotagehandlungen an rollendem Material der Deutschen Reichsbahn bestärkt und ermuntert ...« hätten. In einem anderen Fall genügte es, »für den kommunistischen Umsturz Mundpropaganda gemacht« zu haben. Die Reihe ließe sich lang fortsetzen. In keinem Fall wird der Leser zu der Auffassung gelangen, dass das Urteil angemessen war. Es ging gezielt um die Verbreitung von Angst und Schrecken, die Einschüchterung der Bevölkerung, um diese von ähnlichen Handlungen abzuhalten, die der Schwächung des Nazisystems dienten. Zu diesem Zwecke erhoben sich auch Richter des Kammergerichts Berlin zu Herren über Leben und Tod.
Nach dem gegenwärtigen Stand wurden 18 an Todesurteilen beteiligte Richter namentlich ermittelt. Wie hinlänglich bekannt ist, wurde kein Nazirichter nach 1945 in der Bundesrepublik strafrechtlich für sein Vorgehen zur Verantwortung gezogen. Die Studie von Johannes Tuchel ist ein Anfang, um die Verstrickungen des Kammergerichts in nazistische Rechtsprechung eingehender zu untersuchen. Es bleibt zu hoffen, dass die Thematik auch künftig Anregung für die Forschung bietet und Tuchels Dokumentation sukzessive erweitert und vervollständigt werden kann.
Johannes Tuchel: »Die Todesurteile des Kammergerichts 1943 bis 1945. Eine Dokumentation«, Lukas Verlag, 455 Seiten, 24,90 €