Europa zittert. Nach dem kaum für möglich gehaltenen Sieg der Brexiteers und der noch weniger wahrscheinlichen Kür eines TV-Entertainers zum amerikanischen Präsidenten steht in Kürze die dritte, womöglich entscheidende Schicksalswahl an. In Frankreich heißt das Menetekel Marine Le Pen. Ihr anfänglich hoch favorisierter konservativer Rivale François Fillon ist bereits abgeschrieben, die Bewerber der Linken sind bloße Zählkandidaten. Die Hoffnungen der liberaldemokratischen Welt ruhen auf Emmanuel Macron.
Die 2008 hereingebrochene Weltkrise hat in Europa, das sich in Lissabon einst zur künftig wettbewerbsfähigsten Region der Erde ernannt hatte, besonders heftig durchgeschlagen. Dabei geht es nicht um die griechische Peripherie. Frankreich und Italien, das zweit- und das drittgrößte Land der Europäischen Union, beide seit den Römischen Verträgen von 1957 eminente Stützen des großen »Projekts«, wanken. Weiße Salbe wurde zuhauf aufgetragen. Gesundbeten hilft nicht. Frühe Warnungen vor einem verlorenen Jahrzehnt klingen heute wie Verheißungen: Wenn es denn bei dem einen bliebe!
Dass die Wirtschaft nicht mehr läuft, hat in den betroffenen Ländern zu mehrfachen Regierungswechseln geführt: Wo 2008 Sozialdemokraten regierten, wurden Konservative gewählt, und umgekehrt. Mancherorts installierten sich sogenannte Technokraten- oder Expertenregierungen, die längst wieder vergessen sind. Die in der Existenzkrise befindlichen Sozialdemokraten wurden in Griechenland als vermeintlich radikale Linke wiedergeboren und heißen jetzt Syriza, in Spanien gelang diese Metamorphose nur zur Hälfte, dennoch nennen sich die neuen Sozialdemokraten »Wir können’s«: Podemos. Mitte-rechts hat die programmatisch anspruchslosere Wählerschaft und konnte sich die Spaltungen und Häutungen meist sparen. Das Publikum freilich ist weiterhin nicht zufrieden mit der Auswahl an ratlosen »Establishment«-Parteien, die keine Aussicht auf Veränderung, geschweige denn Besserung bieten.
Deswegen gibt es in jüngster Zeit ganz neue Projekte, um die Zukunft zu gewinnen. In den eingesessenen Parteien recken bislang im Verborgenen gediehene Kräfte die Zeigefinger. Ein junger Florentiner Bürgermeister pries sich als »Verschrotter« an, jagte die alte Führung seiner mehr oder weniger sozialdemokratischen Partei vom Hof und schwor, alles anders zu machen. Er hat inzwischen schon einen Nachfolger gefunden, der sich mit dem Verschrotten zurückhält. Aber Italien zählt nicht. Seit Tomasi di Lampedusas Roman »Gattopardo« kennt man es als Zentrum des Trasformismo, dessen Grundsatz lautet: Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.
Unter den Blinden ist der Einäugige König. In Deutschland, dem angeblichen Gewinner der Eurokrise, heißt Matteo Renzi Martin Schulz. Man sieht daran, dass die Ästhetisierung der Politik, dem Protestantismus sei vielleicht Dank, nicht auf ganzer Linie gesiegt hat. Aber der Human-interest-Faktor wirkt auch hier, ganz ohne »Biographie« geht es nicht: Per aspera, ohne Abitur, durch den Alkoholismus hindurch, für die »hart arbeitenden« kleinen Leute ganz authentisch ad astra – das ist doch was. Und so hat der nigelnagelneue Herr Schulz im Reich der eigentlich unverzichtbaren Kanzlerin Merkel plötzlich Chancen. Nach der vorläufigen Beilegung der Flüchtlingskrise durch die humanitären Helfer Orbán und Erdoğan wendet sich das Wählerpotential der frei flottierenden Verirrten nach der FDP (2009), den Piraten (irgendwann) und der AfD (2016) nunmehr der runderneuerten Sozialdemokratie zu. Dass Herr Schulz die Agenda 2010 nur genauso überholungsbedürftig findet wie vor vier Jahren Herr Steinbrück, bemerkt kaum einer.
Noch neuer als die Herren Renzi und Schulz ist Emmanuel Macron, der französische Politmessias. Die Hillary-Clinton-Biographin und -Hasserin Diana Johnstone nennt ihn »das Roboterähnlichste, was jemals als ernsthafter Präsidentschaftskandidat präsentiert wurde« (The Counterpunch, 17.2.17). Macron, der für die Yellow Press seine deutlich ältere Frau zu bieten hat – Merke: Frankreich! Ergo: l‘amour –, scheint in den Planungsabteilungen des Silicon Valley entworfen und nach deren Algorithmen fabriziert zu sein. Sein Aussehen, sein Alter und die immer wieder taufrischen »Reform«- und »Weder-links-noch-rechts«-Parolen – die Ingredienzen der neoliberalen Spätmoderne, in Deutschland noch von Gerhard Schröder in bester Erinnerung, sollen ein weiteres Mal Erfolg garantieren.
Doch der Einsatz ist hoch. Die alten Bäumchen-wechsle-dich-Spielchen der etablierten Parteien haben einer neuen Frontstellung Platz gemacht: Die Vernünftigen stehen gegen die Irren. Die ersteren allerdings, weil sie nach etlichen Jahren des perspektivlosen Durchwurstelns nicht mehr ohne weiteres akzeptiert werden, kommen jetzt ganz innovativ daher: Unverbrauchte Außenseiter des Betriebs werfen sich in die Schanze, um die Horrorclowns zu verhindern.
Vermutlich hilft das in Frankreich diesmal noch. Wenn ja, könnte der »halbe Prophet« (FAZ vom 27.9.16) Michel Houellebecq Recht bekommen. In seinem 2015 publizierten Roman »Unterwerfung« steht nach der zweiten glanzlosen Amtszeit von François Hollande – Hollande II heißt in der Realität jetzt freilich Macron – im Jahr 2022 als allerneuester Führer der republikanischen Vernunft der Vorsitzende einer gemäßigten islamistischen Partei gegen Marine Le Pen zur Wahl. Ob Houellebecq selbst auf diese Konstellation wetten würde?
Klaus Kempter ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg; jüngste Buchpublikation: »Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland«, 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, 422 Seiten, 70 €.