Eine Stimmungskanone war Angela Merkel noch nie, aber so zwiespältig wie bei ihrer Regierungserklärung zu Beginn der neuen Legislaturperiode war ihre Wirkung auf das Publikum anscheinend auch noch nie. Selbst ein gestandener Journalist wie Nico Fried von der Süddeutschen Zeitung wusste nicht, was er davon halten sollte. Acht Minuten habe es gedauert, bis die Unionsfraktion Merkel das erste Mal Applaus spendierte, schrieb er am nächsten Tag. Das sei für eine eben wiedergewählte Kanzlerin eine Ewigkeit. Ein paar Zeilen weiter klang es ganz anders. »Merkels Rede ist ein ziemlich intensiver Auftritt«, hieß es da. »Man kommt kaum dazu, mal den Blick schweifen zu lassen über die neue Regierungsbank.«
Das kann schon mal passieren, wenn man die eigene Spannung nicht unter Kontrolle hat. Und gespannt waren sie ja alle, was die ewig ungebrochene Verwalterin des Zeitgeschehens zu bieten haben würde nach all den Schwüren, dass es ein »Weiter so« unter gar keinen Umständen geben dürfe. Aber dann reichte es doch nur wieder zu Gemeinplätzen, wie »Deutschland sind wir alle« und dass der Islam »inzwischen ein Teil Deutschlands« geworden sei. Dabei verwendete die Kanzlerin nahezu die Hälfte ihrer Redezeit auf das Thema, das unter dem Stichwort Flüchtlingskrise subsumiert wird. Nein, falsch gemacht habe sie nichts. Dass ein »unglaublich banaler Satz« wie »Wir schaffen das« zu einer Art Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen habe werden können, spreche nur dafür, dass der Ton allgemein rauer geworden sei. Klar, wiederholen dürfe sich eine »Notlage wie 2015« nicht.
Aber ansonsten: Alles paletti. Die höchste Zahl an Erwerbstätigen seit Menschengedenken und Wohlstand, so weit das Auge reiche. Allerdings solle niemand glauben, dass es immer so weitergehen werde. Alles ändere sich im Zuge der Digitalisierung rasant und »qualitativ oft disruptiv«. Laut Wörterbuch hat das was mit zerstören und unterbrechen zu tun. Zwei Milliarden für den sozialen Wohnungsbau, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern, und keine flächendeckenden Fahrverbote. Geht es den Abgaswertemanipulierern denn nicht endlich an den Kragen? Da sei Gott vor, die Autoindustrie ist doch der Motor der Konjunktur. Angela Merkel kennt ihre Grenzen.
Sparen am Rüstungsetat? Das geht gar nicht. Niemand in Europa und in der Welt (Deutsche selbstverständlich unberücksichtigt) denke, so die Bundeskanzlerin, wir gäben zu viel für die Verteidigung aus. Klar, aus Sicht unserer Verbündeten ist das in Panzer, Hubschrauber und U-Boote investierte Geld, nicht zu vergessen in die warmen Socken für die Soldaten im Auslandseinsatz in Mali und neuerdings verstärkt wieder in Afghanistan, gut angelegt. Sonst würden die Deutschen den Weltmarkt noch mehr mit ihren Produkten überschwemmen, als das ohnehin der Fall ist, und, wer weiß, was der amerikanische Präsident dann noch anstellen würde. Außerdem schonen wir damit doch die Etats aller anderen Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft, die dank ihrer Regierung nicht ganz so westliche Türkei eingeschlossen.
Bleibt noch Europa. Da haben Angela Merkel und ihr Buchhalter Olaf Scholz ja einen neuen Aufbruch versprochen. Die Europäische Union, so die Bundeskanzlerin unter Berufung auf Wolfgang Schäuble, sei die beste Idee, die die Europäer im 20. Jahrhundert gehabt hätten und ein Glücksfall für uns Deutsche. Na ja, ein Glücksfall wohl nicht gerade, aber eine Hintertreppe, über die die Deutschen nach ihrer Kumpanei mit den Nazis Zutritt zum europäischen Haus bekamen, das sie kurz davor in Schutt und Asche gelegt hatten. Davon war bei Angela Merkel selbstverständlich nicht die Rede, obwohl die neuen Abgeordneten auf der rechten Seite des Hauses den Blick in die Vergangenheit … Aber das ist ein anderes Thema.