80 Jahre nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hat der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen eine sensationelle Entdeckung gemacht: »Österreich hat Mitverantwortung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus.« Sogar der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich ließ verlauten, was ihm nach acht Jahrzehnten des Schweigens plötzlich einfiel: »Auch die christlichen Kirchen waren vom Ungeist mitbetroffen, der dem NS-Regime den Boden bereitet hat. Manche Kirchen bejubelten nicht nur den ›Anschluss‹, sondern trugen auch die NS-Politik, sei es den Antisemitismus, sei es die Auslöschung vermeintlich unwerten Lebens, voll und ganz mit, was uns heute schamvoll als Verrat am Evangelium erscheint.« Man müsse eingestehen, dass es in den sieben Jahren der NS-Herrschaft »Schuld und Versagen durch Wegschauen und Mittun gegeben hat« – Widerstand habe es in den Kirchen »nur vereinzelt« gegeben.
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet unter der Regierung Kurz/Strache neben dem Parlamentsgebäude in Wien ein Holocaust-Mahnmal, eine zwei Meter hohe Gedenkmauer mit den Namen der 66.000 ermordeten österreichischen Juden, entstehen soll. Man darf davon ausgehen, dass das Mahnmal für Kurz, Strache und ihre Wähler kein dringendes Bedürfnis ist. Man muss sich aber auch fragen, wieso keine der Regierungen unter Beteiligung der SPÖ auf diese Idee gekommen ist.
Die Frage ist eine rhetorische. Es war der damalige sozialdemokratische Innenminister Oskar Helmer, der bereits 1948 mit unverhohlener Abscheu »überall nur jüdische Ausbreitung« registrierte. Helmer plädierte für eine Amnestierung Ernst Burians, weil dessen vom Volksgericht festgestellte Schuld »nur darin [bestehe], dass er der Liquidation von Juden beigewohnt hat«. Burian war wegen der zusammen mit anderen SS-Männern durchgeführten Ermordung von circa 175 ungarischen Juden und Jüdinnen sowie wegen der Mitschuld an der bestellten Ermordung des Leiters der Widerstandsgruppe »Erlauftal«, Rudolf Oberndorfer, durch einen Unteroffizier der Deutschen Wehrmacht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Helmer wörtlich: »Persönliche Schuld ist faktisch keine vorhanden.« Es war der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Adolf Schärf, der ebenfalls 1948 mit dem Slogan »Wer einmal schon für Adolf war, wählt Adolf auch in diesem Jahr« warb. Der SP-Linke Josef Hindels dagegen wurde von Schärf ausdrücklich aufgefordert, nach Schweden zurückzukehren, wo er die letzten Jahre des Exils verbracht hatte. Unverblümt gab man ihm zu verstehen, dass bei den ehemaligen Nazis mehr Wählerstimmen zu holen seien als bei deren Opfern. Nicht nur bei den ehemaligen, möchte man ergänzen.
Selbst die paar ehrlichen Antifaschisten in Österreich wollten sich und der Welt bislang nicht eingestehen, dass der Anschluss von 1938 keiner Anführungszeichen bedarf, dass er von der überwiegenden Mehrzahl der Österreicher gewollt war, und dass auch heute noch mit Beifall rechnen darf, wer die von den Nazis Getöteten und Verjagten verhöhnt und Nazi-Anhänger exkulpiert. Ob sie sich jetzt vom Bundespräsidenten eines Besseren belehren lassen?
Der Antisemitismus war und blieb, von Karl Lueger bis Adolf Schärf, von Georg von Schönerer bis Oskar Helmer, konstitutiver Teil der österreichischen Politik und Garant für Wahlerfolge. Hitlers mörderischer Judenhass war nicht Ursache, sondern Folge auch und gerade des österreichischen Antisemitismus. Deshalb bedurfte es keines Hitlers, damit die Österreicher nach dessen Tod fortsetzten, was sie lange vor seiner Geburt begonnen hatten.
Besonders an den österreichischen Universitäten war der Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert stark ausgebildet. Gleich nach 1945 hat der BSA, die Akademikerorganisation der österreichischen Sozialdemokratie, in Ermangelung originär sozialdemokratischer Intellektueller bis zu 40 Prozent ehemalige Nationalsozialisten aufgenommen, um dem Protektionismus des katholischen CV eingestandenermaßen ein »linkes« Gegenstück zu schaffen. Als ich in den sechziger Jahren an der Wiener Universität Germanistik studierte, lehrten dort ausschließlich Ordinarien, die Mitglied der NSDAP gewesen waren: Höfler, Kranzmayer, Enzinger, Rupprich und dann Seidler. Die österreichischen Exilanten Heinz Politzer und Egon Schwarz wie der Deutsche Hans Mayer, die gerne einen Ruf nach Wien angenommen hätten, hatten ebenso wenig eine Chance wie der Theaterwissenschaftler Joseph Gregor, dem der bis zu seinem Tod im Jahre 1985 das Klima am Institut bestimmende übereifrige Nazi Heinz Kindermann vorgezogen wurde, oder wie Hanns Eisler, der sowohl von der Akademie für Musik und darstellende Kunst wie vom Konservatorium der Stadt Wien abgelehnt wurde. Auf die Zeit des Nationalsozialismus war lediglich die systematische Ermordung der Juden beschränkt. Der Antisemitismus, der dazu geführt hat und der den Nationalsozialismus unangefochten überlebt hat, bildet in Österreich und vor allem an den österreichischen Universitäten jenes Kontinuum, in dem der Holocaust lediglich einen besonders drastischen Abschnitt abgibt. Fast alles, von den Essgewohnheiten über den Ehrbegriff, das Schulsystem und die Rechtsprechung bis zur Stellung der Frauen in der Gesellschaft, hat sich in der Epoche radikal verändert, in der der Antisemitismus konstant geblieben ist und allenfalls offener oder weniger offen geäußert wurde. Die Affäre um ein Liederbuch einer Burschenschaft mit dem Vers »Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: ›Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million‹« hat eben erst Aufmerksamkeit erregt. Man gab sich erstaunt. Ich bin mit »Scherzen« dieser Art aufgewachsen. Wohlgemerkt: nach 1945. »Schulkameraden« gaben mir unumwunden zu verstehen, wieviel Juden in einen VW passen – vier auf die Sitze und zehn in den Aschenbecher – oder dass meine Eltern bei Hitler durch den Rost gefallen seien.
Die Regierung Kurz/Strache aber wird, dank dem Opportunismus und der Zögerlichkeit der Sozialdemokratie, in die Geschichte eingehen als jene Regierung, die eine Gedenkmauer für die ermordeten österreichischen Juden errichten ließ. Man möchte lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre.