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Titel719

Die britische Art des Politikversagens  (Johann-Günther König)

Ursprünglich wollte und sollte das Vereinigte Königreich die EU am 29. März 2019 verlassen. »Bye, bye, EU« skandierten an jenem Freitag denn auch die im Regierungsviertel demonstrierenden Brexiteers, bevor das Unterhaus das Brexit-Abkommen von Premierministerin Theresa May – »It‘s my deal, no deal, or no Brexit« – zum dritten Mal ablehnte. Bis zum 12. April muss die britische Regierung der EU nun tragfähige alternative Vorschläge unterbreiten, um den von der EU-Kommission als wahrscheinlich betrachteten Austritt ohne Vertrag abzuwenden.

 

Zur Erinnerung (1): Vor zwei Jahren, am 29. März 2017, teilte Premierministerin Theresa May dem Europäischen Rat die Absicht des Vereinigten Königreichs mit, aus der Europäischen Union auszutreten (gemäß Artikel 50 des Vertrags über die EU). Mit ihrem Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, wurde der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU förmlich eingeleitet. Die Verhandlungen über die Austrittsbedingungen begannen am 19. Juni 2017. Sie betrafen zunächst die wichtigsten Unsicherheitsfaktoren, die aus dem Austritt des Vereinigten Königreichs resultiert hätten: den Schutz der Bürgerrechte nach dem Brexit am 29. März 2019, die finanziellen Ausgleichsregelungen sowie das beim Referendum im Juni 2016 überhaupt nicht thematisierte Problem der Wiederentstehung einer harten Grenze zwischen der Provinz Nordirland und der Republik Irland. Gemäß den Leitlinien des Europäischen Rates vom 29. April 2017 sollten vor der Erörterung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zunächst »hinreichende Fortschritte« bei der Klärung der genannten drei Faktoren erzielt werden. Am 8. Dezember 2017 veröffentlichten die beiden Kontrahenten einen gemeinsamen Bericht, in dem die mühsam erzielten Einigungen sowie weitere Trennungsbestimmungen dargestellt waren. Daraufhin veröffentlichte die EU-Kommission am 28. Februar 2018 einen ersten Entwurf des Austrittsabkommens zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. Am 19. März 2018 erfolgte die Veröffentlichung einer geänderten Fassung des Entwurfs, da noch in zahlreichen Bereichen Uneinigkeit bestand. An diesem Tag bekräftigte Premierministerin May zudem ihre Zusage für eine rechtlich praktikable Backstop-Lösung, um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland auszuschließen. Am 14. November 2018 erzielten die Verhandlungsführer beider Seiten schließlich eine Einigung über den gesamten Text des Austrittsabkommens sowie – im Rahmen einer politischen Erklärung – über die Grundzüge der künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

 

Zur Erinnerung (2): Im November 2016 gewann die Fondsmanagerin und politische Aktivistin Gina Miller ihre Klage vor dem Obersten Gerichtshof, mit der sie das Ziel der konservativen Premierministerin Theresa May erfolgreich anfocht, den Brexit in ihrer königlichen Legitimation als Regierungschefin ohne Abstimmung und mehrheitliche Zustimmung des Parlaments durchführen zu können. Die Richter erzwangen die Verabschiedung eines einschlägigen Gesetzes und die Einholung der Zustimmung des Parlaments. (Gina Miller steht aufgrund extremer Gewaltandrohungen seitdem unter ständigem Polizeischutz.)

 

Zur Erinnerung (3): Am 15. Januar 2019 endete die erste Abstimmung des britischen Parlaments mit 202 Stimmen für und 432 Stimmen gegen den Brexit-Vertragsentwurf. Da mehr als ein Drittel der Abgeordneten der konservativen Unterhausfraktion das von der eigenen Regierung ausgehandelte Abkommen abgelehnt hatte, schien der Rücktritt von Theresa May nur noch eine Frage von Stunden. Schien … Am 12. März 2019 fand die zweite Unterhausabstimmung über das von der Regierung May ausgehandelte Austrittsabkommen statt – gerade einmal zweieinhalb Wochen vor dem immer wieder beschworenen Austrittstermin am 29. März. Zuvor hatte May bei den Regierungen diverser anderer EU-Mitgliedsstaaten Zugeständnisse insbesondere zur Entschärfung der Backstop-Problematik erbeten, die ihr aber – abgesehen von einigen zusätzlichen Floskeln in der unverbindlichen politischen Erklärung – nicht gewährt wurden. Obwohl die Premierministerin unermüdlich für das Abkommen geworben hatte, lehnte es das Unterhaus wiederum deutlich ab, allerdings mit geringerer Mehrheit als Mitte Januar. Allerdings stimmten erneut auch 75 Abgeordnete der konservativen Partei gegen die eigene Regierung, weil sie die im Austrittsabkommen gewährte Garantie für eine offene Grenze zwischen Nordirland und Irland absolut nicht akzeptieren wollten. Während in der Bundesrepublik Deutschland eine so herbe Abfuhr gewiss den Rücktritt der Bundeskanzlerin nach sich gezogen hätte, blieb Theresa May im Amt und bereitete den nächsten Anlauf vor, um ihren Deal doch noch durchzusetzen.

 

Zur Erinnerung (4): Am Mittwoch, den 27. März – kurz nachdem am Wochenende zuvor gut eine Million Menschen in London für den Verbleib in der EU demonstriert hatten –, übernahm das Unterhaus im Brexit-Chaos für einen Verhandlungstag quasi das Zepter und stimmte über acht alternative Varianten zum mehrheitlich bereits zweimal abgelehnten Brexit-Deal der Regierung ab. Und – oh Wunder – acht Mal lehnte eine Mehrheit der Abgeordneten auch die alternativen Varianten ab. Übrigens erreichte der Vorschlag der Labour-Abgeordneten Margaret Beckett für ein zweites Referendum die größte Zahl von Ja-Stimmen, und der Vorschlag »Customs Union« – er beinhaltete den Brexit mit dem Verbleib der Briten in der Zollunion – erhielt bei aller Ablehnung durchaus auch guten Zuspruch. Für den offiziellen Brexit-Plan der Labour Party stimmte mit 237 Abgeordneten keine auch nur annähernde Mehrheit. Er beinhaltet das Aufrechterhalten der Zollunion und die »Orientierung« der Briten an den Regeln des EU-Binnenmarktes. Die weiteren abgelehnten Vorschläge reichten vom »Norwegen-Modell« bis hin zum – allerdings heftig abgelehnten – »No-Deal Brexit« des Tories John Baron. Einen Austritt des Vereinigten Königreichs ohne Vereinbarung wünscht eine große Mehrheit der Abgeordneten zweifellos nicht. Nach der legendären 8xNo-Abstimmung des Unterhauses ließ Theresa May ihre gespaltene und disziplinlose konservative Fraktion wissen, sie werde von ihrem Amt zurücktreten. Allerdings nur dann, wenn der von ihr verhandelte Austrittsvertrag endlich die Zustimmung des Parlaments finden würde. In dem Fall, so meinte sie, gebe es wohl das Bedürfnis nach einer neuen Führung für die weiteren Brexit-Verhandlungen. Am 29. März stimmten jedoch 344 Abgeordnete gegen und nur 286 für die Austrittsvereinbarung mit der Europäischen Union, und Theresa May gab alles Mögliche, nur eben nicht ihren Rücktritt bekannt.

 

Zur Zukunft (unverbindlich): Am 12. April wird bekannt werden, wie sich die weitere Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU gestalten soll und, nicht zuletzt, ob die Briten an der Wahl zum EU-Parlament teilnehmen müssen. Fehlt nur noch, dass das Vereinigte Königreich einfach so in der EU verbleibt und weiterhin den ungerechtfertigten und ungerechten Britenrabatt in Höhe von 66 Prozent erhält, nachdem die Regierung unter Theresa May sämtliche EU-Instanzen zweieinhalb Jahre lang für nichts und wieder nichts auf Trab gehalten und dadurch so hohe wie unnötige Kosten verursacht hat. Nicht zuletzt für die aufgrund des drohenden harten Brexits erfolgte Einstellung zusätzlicher Zollmitarbeiter, die Erstellung von Notfallplänen und Einlagerungen aller Art, die Vorbereitung von Informationskampagnen und anderes mehr. Wer berechnet den Eurobetrag, der – anstatt in sinnvolle soziale und infrastrukturelle Projekte – in dieses Debakel geflossen ist? Und wer entschädigt die circa 3,2 Millionen EU-Bürgerrinnen und -bürger im Vereinigten Königreich und die circa 1,2 Millionen Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs in den Mitgliedsstaaten der EU sowie die vielen Studentinnen und Studenten für all die Ungewissheiten und Ängste über ihren jeweiligen Aufenthaltsstatus und all die Rechte, die nicht zuletzt im Arbeitsleben und Sozial- und Gesundheitssystem vom Brexit in Frage gestellt scheinen beziehungsweise schienen? Ich kenne deutsche Wissenschaftler, die inzwischen aus purer Ungewissheit die britische Staatsbürgerschaft beantragt und aufgrund ihres mehr als fünfjährigen Aufenthalts in England auch erhalten haben. Allerdings nicht ohne die zeitraubende Vorlage einschlägiger Dokumente und auch Rechnungen, Einbürgerungstest nebst Entrichtung einer Gebühr von 1000 Pfund Sterling inbegriffen. Ich kenne eine britische Wissenschaftlerin mit deutscher Mutter, die den deutschen Pass beantragt und gerade die Sprachprüfung bestanden hat.

 

Aber gemach. Gegenwärtig heißt es: Abwarten und den letzten Akt des Brexit-Dramas verfolgen.