Aufstand, Aufruhr, Chaos, Revolution? Die französische Gesellschaft ist »zerklüftet«, »brüchig«. Das Wort »fracture« (Bruch, Kluft, Graben) dominiert die politische Diskussion: sozialer Graben – die Ungleichheit nimmt zu; territoriale Kluft – im Flächenstaat Frankreich wächst die Wüste; digitaler Graben – ein Teil der Bevölkerung ist abgehängt; politischer Graben – die Strukturen des französischen Zentralismus sind verknöchert, verstärkt durch die Präsidialverfassung der Fünften Republik. Macron hat diese Entwicklungen beschleunigt.
Seine Wahlkampagne nutzte den eigentlich populistischen Slogan voll aus: Weg mit dem ausgedienten politischen Personal! Der Schuss geht jetzt nach hinten los. »Abwählen!« ruft es von vielen Seiten zurück. »Tritt ab! – Dégage!« Macron diskreditierte vor seiner Wahl alle politischen Parteien. Nach seinem Sieg verbindet sich der wachsende Zorn allein mit seinem Namen und seiner Partei. Frankreichs Staatspräsident ignoriert oder düpiert systematisch die sowieso schon schwachen Gewerkschaften. Ein Volk, das hinter ihm stünde und dessen Auftrag er umsetzen würde, gibt es nur in begrenztem Maße – die Folge eines unheilvollen Wahlsystems. Nur 23 Prozent der Wähler und 18 Prozent der Wahlberechtigten stimmten im ersten Wahlgang für sein Programm, der Erfolg in der Stichwahl war nur Ausdruck der Opposition gegen die rechtsradikale Kandidatin Le Pen. So ließ Macron einen Teil seiner Wahlversprechen fallen oder setzte sie aus. Gegenstimmen in der Gesellschaft wurden von ihm vor den ausländischen Medien angeblich humoristisch abgetan als »Befindlichkeiten widerständiger Gallier«. Jetzt aber ist Asterix der Comicwelt entsprungen und hat eine gelbe Weste angezogen.
Gewaltenteilung und -unterscheidung: Wer ist in wessen Gewalt?
Die Ordnung schwankt? Eher versagen Polizei und Regierung. Unter Sarkozy wurde die »Police de proximité« (Kontaktbeamte) abgeschafft und später homöopathisch wieder eingesetzt. Es gibt fast keinen Kontakt mehr zur Bevölkerung. Alles basiert auf Repression. Internationale Institutionen in Europa und der UNO monieren regelmäßig Brutalität und Unverhältnismäßigkeit der Reaktionen – zuletzt im Zusammenhang mit den Gelbwesten und dem unverantwortlichen Einsatz von Hartgummi-Geschossen. Brutalität, Inkompetenz und Provokation grassieren weiter und wetteifern miteinander. Nur dass nicht mehr die Ghettos der Banlieue der Schauplatz sind, sondern »normale« Klein- und Großstädte. Das Desaster am 15. März wurde teilweise durch die nicht funktionierende Befehlskette herbeigeführt, wohl aber auch durch das an Provokation grenzende Ungeschütztlassen symbolischer Ziele des »Volkszorns« (Schwarzer Block), wie das Edelrestaurant Fouquet’s auf den Champs-Elysées, wo die politische Elite mit den befreundeten Milliardären feiert. Ist es doch einfacher, die Gelbwesten insgesamt als Gewalttäter an den Pranger zu stellen!
Außerdem muss man wissen: Mehr als die Hälfte der hunderttausenden Gelbwesten in der ersten Protestphase waren Menschen, die als Abgehängte und Politikverdrossene keinerlei Erfahrung mit Demonstrationen und Polizeigewalt hatten und erstmals auf die Straße gingen. Viele haben später nicht mehr in der Hauptstadt oder in den Regionalhauptstädten demonstriert, sind aber weiter aktiv, einige wenige haben Gewalt ausgeübt. Auch kann sich jeder als Gelbweste ausgeben, Aufwiegelung durch Agents Provocateurs ist also denkbar. Und die Medien spielen größtenteils ein gefährliches Spiel. Sie stellen die Aktionen der ganzen Bewegung als Randale dar, besonders die Nachrichtensender CNews und BFM-TV, mit Endlosschleifen von brennenden Autos. Ausländische Medien beteiligen sich an dieser Art von Berichterstattung – mit oder ohne Absicht.
Was heißt hier »große Debatte«?
»Le grand débat« soll alles beruhigen und richtigstellen. Wird es aber nicht tun. Sie soll Macrons Verdienst sein? Er musste sie organisieren. Hatten doch tausende von Bürgermeistern schon Anfang Dezember auf eigenen Antrieb die Rathäuser geöffnet und dort »cahiers de doléances« ausgelegt, Bürgerinnen und Bürger füllten die Beschwerdebücher mit hunderttausenden Einträgen. Die offizielle Debatte wird hierarchisch organisiert: auf jeder Ebene Wiedergabe der nächstunteren, zuletzt Synthese. Das macht die Teilnehmenden misstrauisch: Was bleibt von den Anfangsforderungen übrig? Und: Wer bürgt dafür, dass der Präsident sie erhört und nicht nur gehört hat? Macron selber sagt, er ändere nichts an seinen großen Reformen. Ein Dialog ist das nicht: Er versammelt mehrere tausend Bürgermeister oder 60 Intellektuelle im Élysée-Palast. Sie dürfen ihm drei Minuten lang Fragen stellen, er antwortet. Gegenfragen sind nicht gestattet. 70 Prozent der Franzosen sind der Ansicht, dass aus dieser Debatte keinerlei Lösung für die Gesellschaft kommt.
Wie denn weiter?
Herrscht wirtschaftlich Chaos? Wie groß ist der Schaden? 0,1 Prozent weniger Bruttosozialprodukt stellte das Statistische Institut INSEE (Libération 19.3.19) fest und räumte gleichzeitig ein, daran könnten ebenso das milde Winterwetter mit weniger Heizkosten wie geringere Autokäufe aufgrund neuer Umweltauflagen schuld sein.
Aber anderes wächst: Soziale Beziehungen werden dort wiederbelebt, wo sie erstorben waren, und neue entstehen. Das bleibt. Gibt es einen Schulterschluss mit der »tradierten« sozialen Bewegung der Gewerkschaften? Die Anzeichen sind da; man meldet sich zu Wort, schreitet sogar zur Tat, nicht mehr allein (in Nantes zum Beispiel am 19. März, wie sonst auch in Frankreich, eine Einheitsfront aus Gewerkschaften, darunter die Lehrergewerkschaft, und Gelbwesten mit 4000 friedlichen Demonstranten). Ein Zurück in das Schweigen – undenkbar. Der Einsatz der Armee (auch nur für den »statischen« Schutz von wichtigen öffentlichen Gebäuden) ist in diesem Kontext ein Armutszeugnis.
Haben die Gelbwesten Verwirrung gebracht in die Kampagne zur Europawahl? Die Rechnung von Macron, sich als Anführer des Fortschritts europaweit hinzustellen, wird sicher schwerer aufgehen. Viele Wähler werden ihn aus innenpolitischen Gründen abstrafen. Interessant wird sein, wie sich die potentiellen Neuwähler des »abgehängten Frankreichs« entscheiden werden. Und die Jugend, die zwar wenig repräsentiert ist bei den Gelbwesten, aber massiv für eine Wende in der Umweltpolitik auftritt.
Europawahl hin oder her, wenn Macrons Partei die Dauerkrise abwenden und Neuwahlen vermeiden will, so bleibt ihr nichts anderes, als umgehend soziale Reformen einzuleiten und zwar, indem sie eine ernsthafte und radikale Umweltpolitik in den Mittelpunkt stellt und in ihr sonst gegensätzliche gesellschaftliche Strömungen vereint beziehungsweise diese in sie einbindet. Dafür müsste Macron mit geändertem, sozialem Mandat die überfällige Reform der französischen Variante der repräsentativen Demokratie einleiten. Es könnte endlich das Ende sein einer Fünften Republik mit den fatalen autoritären Zügen, deren erklärte Nacheiferer Orbán, Erdoğan und Putin heißen. Die Gelbwesten hätten dann bewirkt, dass im Auge der »gelbe Fleck«, also »die Stelle des schärfsten Sehens« aktiviert wird: Wähler von morgen und Gewählte von gestern wurden und werden sehend gemacht.
Prof. Jean-Paul Barbe, französischer Germanist und Kulturanthropologe, Übersetzer, Autor, lebt in Frankreich und Berlin.