Das inzwischen weltweit verbreitete SARS-CoV-2 bestimmt seit dem 21. Februar die Auszeit in Italien. Seitdem hat die Regierung die Abschottungsmaßnahmen der Bevölkerung Woche um Woche verstärkt, allerdings mit fatalen regionalen Verzögerungen. Der schon am 31. Januar aufgrund einer Warnung der Weltgesundheitsorganisation vor einer Virusepidemie für sechs Monate erklärte Notstand hatte die administrativen Kompetenzen zunächst überfordert. Inzwischen zählt Italien die meisten Infizierten, Erkrankten und Toten in Europa. Die Sterberate liegt am 26. März bei zehn Prozent der Infizierten, gegenüber noch 0,5 Prozent in Deutschland und einem Weltdurchschnitt von 4 Prozent. Alle fragen: Warum?
Ich vermute, dass sich die Sterberate überall proportional zu den spezifischen Bedingungen verhält, die das Virus in einem Kontext vorfindet, das heißt sie ist auch örtlich, zeitlich und altersgruppenbezogen zu differenzieren. Ein Forscher der Obersten Gesundheitsbehörde (Istituto Superiore della Sanità), Graziano Onder, weist in einer Studie, die soeben in der Fachzeitschrift Jama veröffentlicht wurde, darauf hin, dass zum einen die Erhebungsmethoden in den einzelnen Staaten unterschiedlich sind und man in Italien bei den Toten oft nicht unterscheide, ob sie an oder mit dem Coronavirus gestorben seien. Zum anderen trete eine Diskrepanz zwischen der Sterberate in Italien und China in derselben Verbreitungsphase des Virus nur bei den über 70- und 80-Jährigen auf, die der 60- bis 69-Jährigen liege in beiden Ländern bei 3,5 Prozent.
Es kann nur komplexe Antworten auf die obige Frage geben. An erster Stelle muss zweifellos die medizinische Ausgangslage genannt werden, und das heißt die inzwischen extrem unterfinanzierte und entsprechend unzureichende Ausrüstung des gesamten nationalen Sanitätssystems, dessen Effizienz und Exzellenz in Norditalien einst gelobt wurde. Die folgenden Zahlen eines Berichtes von 2018 über »40 Jahre Nationales Gesundheitssystem« sprechen Bände: Die einst 530.000 Betten (1981) reduzierte man auf 365.000 (1992) und bis auf 191.000 im Jahre 2017, der letzten offiziellen Zahlenangabe. Die Zahl der Krankenhausbetten sank also von noch 5,8 je 1000 Einwohner (1998) auf 3,6 (2017). Zum Vergleich: In Deutschland stehen heute trotz auch dort erheblicher Kürzungen immer noch sechs Betten pro 1000 Einwohner bereit.
Es waren die Brüsseler Auflagen der letzten Jahrzehnte, fixiert im sogenannten Fiskalpakt (2012), die zu massiven Sparmaßnahmen im gesamten Wohlfahrtssektor geführt und das Gesundheitssystem und die Forschung in besonderem Maße getroffen haben. Das öffentliche Gesundheitswesen ist sehenden Auges kaputtgespart worden. Allein zwischen 1999 und 2009 wurden 50 Prozent der Krankenhäuser im Norden und 23 Prozent im Süden geschlossen. Inzwischen gibt es in den 8000 Gemeinden des Landes überhaupt nur noch 1000 große Krankenhäuser, zu 51,8 Prozent in staatlicher und zu 48,2 Prozent in privater Hand. Vor allem die Regierungen von Mario Monti (2012) und Matteo Renzi (2015) haben diese staatlich finanzierten Privatisierungen gefördert, sie wurden zu regelrechten Pfründen für Wenige, begleitet von einer Fülle von Korruptionsskandalen. Vorreiter dabei war die Lombardei unter Führung der Forza Italia und der Lega.
Die heute tragisch anmutende Dramatik der Ausgangslage vor allem in der Lombardei erschließt sich allein schon aus der Zahl der in den Krankenhäusern zur Verfügung stehenden circa 5000 Intensivbetten für 60 Millionen Italiener gegenüber 28.000 Intensivbetten in Deutschland für 81 Millionen Einwohner. Diese weniger als drei Prozent der Gesamtbettenzahl Italiens entsprechen nur knapp einem Drittel des europäischen Durchschnitts, und diese Betten sind schon von den üblichen Kranken im Winter stark bis überbeansprucht. Erst in den letzten Wochen konnte man den Bestand auf nun fast 9000 erhöhen. Der Zustand ist seit Jahren bekannt, ebenso wie die dünne Personaldecke. Zehntausend junge, gut ausgebildete Ärzte fanden keine Stellen mehr und wanderten aus. Nimmt man noch den Umstand dazu, dass jetzt im Februar nur ein Bruchteil an nötiger Ausstattung vorhanden war, es an Atemgeräten und Schutzkleidung fehlte und fehlt, so ist verständlich, dass sich fast zehn Prozent des bis zum Umfallen erschöpften Klinikpersonals inzwischen angesteckt haben – in einigen Strukturen sogar bis zu 50 Prozent – und die Krankenhäuser (neben den zu 70 Prozent privaten Altersheimen) damit selbst zur größten Ansteckungsgefahr geworden sind.
Hinzu kommt, dass die stark industrialisierte Po-Ebene seit Jahrzehnten zu den Gebieten mit der stärksten Luftverschmutzung in Europa gehört, die der von Wuhan ähnelt. Der aktuelle Notstand ist dort ausgebrochen, wo die Lungen der Menschen schon seit langem belastet sind und auch die Infektionsgefahren mit allen möglichen Viren höher sind als anderswo. Genannt wird als erhöhter Risikofaktor auch das relativ hohe Lebensalter der Italiener. Die Altersheime gerieten in unhaltbare Situationen, als sich auch dort das Pflegepersonal rasch infizierte und kaum Ersatz bereitstand; die Sterberate stieg also an, auch ohne Corona-Infektion. (Eine qualifizierte Pflegekraft wird übrigens mit 13 Euro brutto pro Stunde entlohnt.)
Die anfänglichen Bitten um rasche Hilfe an die europäischen Nachbarn verhallten ungehört, erste Transportflugzeuge mit Material, Ärzten und Pflegern trafen Mitte März aus China sowie aus Kuba und Russland ein, das US-Militär stellte dann immerhin zehn Intensivbetten in Aviano, seinem Atomwaffendepot im Veneto, zur Verfügung, und deutsche Bundesländer wollen 18 Intensivpatienten aufnehmen.
In Italien hat diese Notlage all die anderen schwerwiegenden Probleme des Landes aus dem Blickfeld verdrängt – alle Medien propagieren das Virus mit ungezählten zu Hilfe gerufenen Medizin-Experten, die den bisherigen Mangel an wissenschaftlicher Kompetenz im öffentlichen Diskurs wettzumachen versuchen und dem Fernsehpublikum Vertrauen einflößen sollen. Sie suggerieren Kompetenz und Sicherheit, was die Politiker schon seit langem nicht mehr vermögen. Aber dabei treten auch alle Diskrepanzen zwischen Vertretern der Wissenschaft, die ja meist nur über partielle und vorläufige Ergebnisse verfügen, und den sogenannten Experten zutage, von denen klare (Vor-)Aussagen erwartet werden. Der Umstand, dass beide in dem heiklen polit-ökonomischen Kontext auch nicht neutral sind, führt oft zu widersprüchlichen Aussagen, die das Publikum mehr verunsichern als beruhigen. Aber alle Maßnahmen der Politik werden nun von diesen Experten bestimmt.
Die allabendlich um 18 Uhr vom Zivilschutz (Protezione Civile) verkündeten Zahlen der Infizierten und Verstorbenen – unkommentiert wie Börsendaten – sind nur vage aussagefähig, denn die Zahl aller Infizierten ist unbekannt und wohl weit unterschätzt. Der Chef des Zivilschutzes selbst spricht von einer mindestens 10-mal höheren Zahl Infizierter, denn die Bevölkerung ist nicht systematisch getestet worden, auch dafür mangelte und mangelt es immer noch am nötigen Material.
Aber die Zahlen zeigen einen Trend an und stimmen die Bevölkerung auf den nationalen Notstand ein, der die Disziplin aller einfordert. Politiker und Medien bedienen sich militärischer Rhetorik: Es ist von einem Krieg gegen einen unsichtbaren Feind die Rede, gegen den die vorderste Frontlinie der Medizin in den Schützengräben der Hospitäler heroisch unter Einsatz des Lebens kämpft und die von der Heimatfront ohne Wenn und Aber unterstützt werden muss. Inzwischen sind auch Militärärzte im Einsatz, Feldlazarette werden errichtet, Soldaten transportieren Särge und kontrollieren die Straßen.
Der Notstand, für den es in Italien keine spezifische Gesetzgebung gibt, wird von Regierungschef Giuseppe Conte mit Experten-Teams gemanagt. Seine prekäre Koalition aus Demokraten und der Fünf-Sterne-Bewegung blieb bisher im Hintergrund (zum Teil auch unter Quarantäne wie PD-Chef Zingaretti).
Das Parlament ist wegen der Infektionsgefahr wochenlang de facto nicht mehr zusammengetreten. Der parteilose Conte erhält inzwischen Zustimmungswerte um 61 Prozent und steht als neuer »Mann am Steuer« auch deshalb weiterhin unter politischem Beschuss vonseiten der rechten Opposition, die an den Entscheidungen beteiligt sein und selbst gern das Steuer übernehmen möchte.
Salvinis Lega, die alle nördlichen Regionen regiert, konnte von ihrem dortigen Krisenmanagement bisher nicht spürbar profitieren. Daher sitzt sie der Regierung in Rom mit radikalen Forderungen im Nacken, anstatt jene regionale Handlungsautonomie unter Beweis zu stellen, die sie seit langem fordert, aber jetzt nicht auszuüben weiß.
Dass es nun bei allen Maßnahmen in den vergangenen Wochen auch unter den einzelnen Regionen unendlich viele Widersprüche gab, man offenbar zu spät und zögerlich handelte und zum Beispiel nicht verhinderte, dass bei der Abschottung der ersten »roten Zonen« Zehntausende vom Norden zu ihren Familien in den Süden entfliehen konnten (was auch in Frankreich passierte), war – unter den gegebenen Bedingungen – wohl kaum vermeidbar. So konnte die Virus-Welle auch das noch viel ärmere Süditalien überrollen. Dort fürchtet man neue Herde der Infektion, wenn sie im Norden abebben sollte, und es gibt bereits entsprechende Meldungen aus Kampanien, Kalabrien, Sizilien und Sardinien.
An Anlass zu Kritik mangelt es nicht, doch die bleibt in der brisanten Situation im Hintergrund oder tummelt sich in den Sozialen Medien. Die Disziplin der Bürger beim Haushüten ist erstaunlich groß, zumindest soweit ich es an meinem Platz in Venedig erkennen kann, von dem aus man sich seit dem 22. März mit einem neuen Passierschein (es gibt nach jedem Dekret eine neue Variante desselben) noch im Umkreis von 200 Metern bewegen darf. Über 90 Prozent der Befragten halten laut einer Umfrage von Iivo Diamanti (Repubblica, 23.3.2020) die seit vier Wochen verschärften Einschränkungen für notwendig, auch wenn wichtige konstitutionelle Grundrechte in Italien vorerst außer Kraft gesetzt sind.
Die EU hat ihre nationalen Egoismen wiederum unter Beweis gestellt, als sie die Schengen-Regeln aussetzte und nach und nach die Außengrenzen der EU und viele nationale Grenzen für Menschen, nicht für Waren, schließen ließ. Durch das jüngste umstrittene italienische Regierungsdekret ist seit dem 22. März auch ein Großteil der Industrieproduktion eingestellt, vorerst bis Anfang April. Über die schwierige Entscheidung, welche Produktionsketten unterbrochen werden können und welche nicht, gab es starke Auseinandersetzungen mit den Unternehmern. Die Gewerkschaften streikten in der Lombardei und in Latium zwei Tage lang, weil Beschäftigte de facto ohne Infektionsschutz arbeiten, und erreichten eine weitgehende Einbeziehung auch der Rüstungsindustrie, die bisher als unverzichtbar gilt.
Die EU musste nach anfänglichem Zögern und Zaudern ihre ins Mark der Nationen einschneidenden Finanzrestriktionen lockern, sogar den heiligen Fiskalpakt, allerdings bisher nur auf Zeit. Vor allem Deutschland und seine nördlichen Nachbarn stellen sich dessen definitiver Aufhebung immer noch entgegen, ebenso auch den von neun EU-Staaten unter Führung Frankreichs, Italiens und Spaniens geforderten Euro- oder Corona-Bonds zur gemeinsamen Finanzierung eines europäischen Wiederaufbaus. Brüssel gestattete Italien nur, die bisherige 3-Prozent-Marke der Neuverschuldung zu überschreiten – damit Gelder für die Unterstützung des zerstörten Wirtschaftskreislaufs im März in Höhe von rund 25 Milliarden Euro per Dekret bereitgestellt werden konnten. Ein zweites Paket ist für April in Aussicht gestellt. Aber das wird nicht reichen – und der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi forderte in der Financial Times »ein völliges Umdenken angesichts dieser menschlichen Tragödie potentiell biblischen Ausmaßes« – eine Schocktherapie für einen Wechsel zu größtmöglicher Staatsintervention, europaweit, um Folgen abzuwehren wie aus den 1920er Jahren – und gerichtet sind seine Worte wohl vor allem an Berlin.
Sich Mut zusingende Menschen auf Balkons sah ich bisher nur in Fernseh-Spots. Und die schönen Fotos der großartigen menschenleeren Plätze in den italienischen Städten zeigen nicht die desolaten Gassen der Peripherie, nicht die Obdachlosen, die armen Familien, deren Kinder kein Homelearning am Bildschirm erreicht, nicht die Lager der Migranten und nicht die stark überbelegten Gefängnisse, in denen kürzlich Revolten ausbrachen, die mit 17 Toten endeten.
Vielen wird nach und nach klar, dass es sich nach dem noch nicht absehbaren Ende der Pandemie nicht um eine Rückkehr in ein Vorher handeln kann und wird. Der Bestand der EU steht auf dem Spiel, wenn es keine Überwindung der nationalen Egoismen gibt. Man darf gespannt sein, ob aus einem so kleinen Virus etwas großes Neues entstehen kann oder ob sich in Zukunft eine verstärkte Ungleichheit mit jener »Fobocrazia«, einer Herrschaft der Angst, ausbreiten wird, von der die römische Philosophin Donatella Di Cesare anlässlich möglicher Notstandsregime im Espresso vom 15. März schreibt. Dort hat der Karikaturist Altan am 22. März eine seiner genialen Zeichnungen platziert: »Die Welt? – fragt sein braver Bürger – »Waschen wir uns gründlich die Hände (= scheren wir uns nicht drum), dann sind wir in Sicherheit.«
(»Il Mondo? – Laviamocene accuratamente le mani e siamo al sicuro.«)