Spanische Krankheit? von Theobald Tiger
Wer schleicht durch alle kriegführenden Länder?
Welches Ding schleift die infizierten Gewänder
vom Schützengraben zur Residenz?
Wer hat es gesehn? Wer nennts? Wer erkennts?
Schmerzen im Hals, Schmerzen im Ohr –
die Sache kommt mir spanisch vor.
Aber wenn ichs genau betrachte
und hübsch auf alle Symptome achte,
bemerke ich es mit einem Mal:
das ist nicht international.
Und seh ich das ganze Krankencorps:
kommts mir gar nicht mehr spanisch vor.
Ein bißchen Gefieber, ein bißchen Beschwerden,
Onkel Doktor sagt: »Morgen wirds besser werden!«
Nachts im Dunkel Transpirieren,
Herzangst, Schwindel und Phantasieren,
mittags Erhitzen, abends Erkalten,
morgen ist alles wieder beim Alten –
Das ist keine Grippe, kein Frost, keine Phtisis:
das ist eine deutsche politische Krisis.
In der Weltbühne vom 18. Juli 1918 erschien das Gedicht von Tucholsky. Er irrte, das Virus war doch ziemlich international, nicht aus Spanien – aus den USA mit den Truppen-Transportern eingeschleppt. Die ersten Berichte darüber kamen aus Spanien. Der Krieg tobte noch. Es war eine Grippe, auch Schüttelfrost im Sommer und Schwindsucht (der Hunger machte noch anfälliger dafür) – eine »deutsche politische Krisis«, da irrte er nicht.
War etwa die Grippe schuld, dass Deutschland den Krieg verlor? Im Kriegsnachtrag 3. Teil von Meyers Lexikon von 1920 lese ich über die »spanische« Grippe, dass sie sich über ganz Europa ausbreitete und »besonders im Juli und August bei den Deutschen die Kampfkraft durch Massenerkrankungen stark beeinträchtigte «. Die Kampfkraft! Noch am 17. Oktober finde ich in der Weltbühne etwas Irritierendes: eine Zeichnung, Werbung. Menschen laufen wie im Marsch über die Seite, in der Mitte eine Lücke. Text dazu: »Da fehlst Du!« Weiter: »Willst Du wirklich dem Vaterlande, dem Du alles, was Du bist, verdankst, das Darlehen verweigern, um das es Dich in schwerer Zeit bittet – für das es Dir hohe Zinsen gewährt? Würdest Du so handeln, Du wärest kein Deutscher! – D a r u m z e i c h n e!« Im Endspurt des Krieges gab es noch ein paar dieser Werbeanzeigen in der Weltbühne.
Und am 24. Oktober schrieb ein anonymer Kritiker dort vom »Theaterkurssturz«. Ähnlich wie »an der Börse« – nun an den Bühnen. Durch die Kriegslage: »plötzlich verschärft die Grippe«. Die Leute meiden die Theater. »Sie wollen kein Geld dafür ausgeben, daß ihr Nachbar seine Bazillen in ihr Profil niest; und wer bereits seinen Teil an der Epidemie dahin oder keine Furcht hat, ist doch der Meinung, daß er sich in die Trübsal unserer Läufte auch zuhause, und billiger, versenken kann.«
Die Theater waren nicht geschlossen, damals. Bei uns heute ist nichts mehr offen. Noch Anfang März war klar: Das größte NATO-Manöver seit 25 Jahren wird auch die Bundeswehr an die Grenzen Russlands führen. Doch dann wandte sich US-Befehlshaber Christopher Cavoli aus der häuslichen Quarantäne an seine Soldaten: »Achtet aufeinander, achtet auf euch selbst und wascht euch die Hände!« Und am 20. März hieß es, die Bundeswehr habe angekündigt, ihre Mitwirkung beim NATO-Manöver einzustellen. Ach!