Es muss sich um eine ebenso exzellente wie sympathische Persönlichkeit handeln. Die öffentlich-rechtliche ARD-Tagesschau war begeistert, auch die Zeit und die FAZ: Als »messerscharfer Denker« sei er ebenso »volksnah wie freundlich, konzentriert und zurückhaltend«. Er sei »bestens vernetzt, ein Mann mit Einfluss«. Fazit: »Merkels Mann für Karlsruhe ist der richtige« (Welt, 14.11.2018). Die Tagesschau gab ihm Gelegenheit zur Selbstdarstellung: Es seien die kleinen Themen der Menschen, die ihm am Herzen liegen, wenn sie schwer krank oder arm sind (ARD, 9.11.2018). Und damit wir uns den Menschen – Katholik, drei Kinder – besser vorstellen können, beschrieb ihn das Handelsblatt (22.11.2018) als »besonnen«; er trage »stets dunkle Anzüge, mit Krawatte und Einstecktuch« und »seine Heimatverbundenheit ist offensichtlich«, wenn er etwa mit Fan-Schal dem TSG Hoffenheim zujubelt.
Dagegen kann die von dem Journalisten und Publizisten Werner Rügemer beschriebene Person allenfalls bei Gleichgesinnten Vertrauen wecken, die Sympathien der breiten Massen werden sich in engen Grenzen halten. Über diesen Mann lesen wir: In der US-Großkanzlei Shearman & Stirling, in der er Anwalt und später Miteigentümer war, »wurde der größte Steuerbetrug der deutschen Geschichte, der Cum-Ex-Milliarden-Trick, zur juristischen Reife gebracht«. Eben diese Kanzlei ist auch »führend bei den internationalen privaten Schiedsgerichten«, die Konzernklagen gegen soziale und ökologische Regelungen des Staates vertreten. Als Anwalt der Wirtschaftskanzlei SZA habe er große Unternehmen vertreten; »die Kanzlei vertritt bis heute die Abgas-Betrüger von VW« – aber als Bundestagsabgeordneter verhinderte er später eine Befassung mit dem Skandal. Als Politiker trat er für harte Sanktionen gegen Arbeitslose ein und versuchte, die Einführung des Mindestlohns zu verschleppen.
Zwei Personen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – oder? Nein, die Rede ist in beiden Fällen von Stephan Harbarth, der seit November 2018 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts ist. Im Mai soll er die Nachfolge des derzeitigen Präsidenten Andreas Voßkuhle antreten. Neben der begeisterten Zustimmung meinungsprägender großer Medien gibt es nur wenig Kritik, so von Werner Rügemer auf den NachDenkSeiten (9.3.2020).
Welche Charakterisierung trägt besser dazu bei, beurteilen zu können, ob Stephan Harbarth als Präsident in einem Verfassungsorgan seine Aufgabe im Interesse des Souveräns, also der Bevölkerung, des Gemeinwohls und des sozialen Rechtsstaates ausüben kann? Wird der gute Katholik mit Herz für die kleinen Leute seine Einstellung zum Mindestlohn oder zu Konzernklagen gegen den Staat ändern? Sind seine Frisur und sein Einstecktuch maßgeblich für die Frage, ob er unbefangen gegenüber CumEx- und Diesel-Betrügern urteilen kann? Die Konzernmedien, die Kritik an Harbarths Interessenkonflikt nur beiläufig zitieren, betätigen sich als Sprachrohr staatstragender Parteipolitik. Das reicht nicht für Meinungsbildung in einer Demokratie.
Werner Rügemer weist außerdem darauf hin: »Als CDU-Abgeordneter im Bundestag hat er nach aller Kenntnis gegen das Abgeordneten-Gesetz verstoßen. Es legt fest: Das Mandat ist die Haupttätigkeit. Doch Harbarth war hauptamtlich als Anwalt tätig mit jährlichen Millioneneinkommen.« Ein Verfassungsgerichtspräsident, der vorher als Mitglied des CDU-Bundesvorstandes und als Bundestagsabgeordneter enorm hohe Nebeneinkünfte als Anwalt hatte: Wie soll man ihm abnehmen, dass er bei der Befassung mit Themen wie Hartz IV, Privatisierung des Gesundheitswesens oder der milliardenschweren Spekulation mit Wohnungen nicht im Sinne von »Klassenjustiz« für die Interessen seiner Klienten urteilt? Im Bundestag setzte sich Harbarth nachdrücklich für die Vorratsdatenspeicherung ein. Wie würde er wohl entscheiden, müsste er bei anstehenden Auseinandersetzungen um demokratiepolitische und Bürgerrechte betreffende Gesetze – Polizeigesetze, Patientendaten et cetera – seiner früheren Position abschwören?
Eine andere Frage ist, wieso ein ausgewiesen konzernnaher Anwalt von einer ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP in Bundestag und Bundesrat in diese hohe Staatsfunktion gewählt wird. Die Parteien waren sich bei der erforderlichen Zwei-Drittel-Wahl zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts einig. Die Grünen unterstützten ihn, die SPD sparte nicht mit Lob (»ausgezeichneter Kandidat« und »absoluter Kenner des Rechts«). Es zeichnet sich ab, dass die Übernahme der Herrschaft in einer Formaldemokratie durch Konzerne und Großinvestoren an keiner Schamgrenze mehr Halt macht. Ein weiterer Konzernlobbyist, der Möchtegern-CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, Hand in Hand mit Stephan Harbarth, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in spe: Welch eine Perspektive.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts nimmt eine höchst politische staatliche Aufgabe wahr. Regierungsnahe Parteien und Medien, die ihrer Aufgabe als »Vierte Gewalt« nicht gerecht werden, lenken die Aufmerksamkeit auf Nebensächlichkeiten, erzählen Geschichten mit »human touch« – mit dem offensichtlichen Ziel, die Interessenverquickung mit netten Geschichtchen vergessen zu machen. Zu den Regeln dieses »Storytelling« zitieren Michael Müller, Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer den ARD-Redakteur Christian Friedel: »Wir sollten einfach gute Geschichten schreiben. Ob fiktiv oder real, da sehe ich keinen Unterschied. Denn der Übergang ist sowieso fließend. Ab wann ist etwas schon fiktiv? Wann noch real?« (»Zwischen Feindbild und Wetterbericht«, PapyRossa 2019, S. 23 f.)
Seine bisherigen politischen und juristischen Schwerpunkte lassen den hochdotierten Konzernlobbyisten Stephan Harbarth als ungeeignet erscheinen für die Funktion des Hüters des Grundgesetzes als Bundesverfassungsgerichts-Präsident. Das Problem sitzt allerdings tiefer, wie seine Wahl durch die Größtkoalition und die begeisterte Zustimmung der Mainstream-Medien zeigen.