Berichterstattung
Sie berichten über Demonstranten,
über Dissidenten,
über die Verletzung der
Menschenwürde,
sie berichten über Freiheitsentzug,
über die Einschränkung
von Bürgerrechten
– woanders.
Wolfgang Bittner
Einspruch
gegen die Entscheidung des Deutschlandfunks, die Sendung »Politische Literatur« umzukrempeln und die leitenden Redakteure Karin Beindorff und Hermann Theißen abzusetzen, haben Wolfgang Bittner, Arnold Bruns, Michael Buckmiller, Peter O. Chotjewitz, Volker Dittrich, Andrea Doberenz, Gerd Fuchs, Gabi Gillen, Günter Grass, Dorothee Gremliza, Annett Gröschner, Hannes Heer, Brigitte Kronauer, Michael Krüger, Antje Kunstmann, Hanna Mittelstädt, Erasmus Schöfer, Wilfried F. Schöller, Renate Schoof, Thomas Carl Schwoerer, Klaus Staeck, Frank Strickstrock, Klaus Theweleit, Volker Ullrich, Gaby Weber und viele andere Autoren und Verleger eingelegt. Das Engagement wird verstärkt werden müssen, um die letzten Plätze der Kritik im Rundfunk zu verteidigen (was uns aber, so schwer es auch ist, nicht genügen sollte.
E. S.
Erfolgsrezepte
Ab und zu schneit mir der »Hochschulanzeiger« der Frankfurter Allgemeinen ins Haus. Die Broschüre wendet sich an Studierende und Hochschulabsolventen und ist ganz auf Karriere, Beruf und Geldverdienen ausgerichtet: Welche Uni ist die Beste? In welcher Branche verdiene ich am meisten? Welche Unternehmen bieten Praktika an?
Auch ausführliche Rezensionen enthält das Blatt. In den besprochenen Büchern geht es oft um Managementtheorie und Betriebshierarchien, also um die hohe Kunst der Arschkriecherei innerhalb des Betriebsrudels. Aber nicht nur nach oben zu buckeln gilt es, man soll auch fein nach unten treten. In der aktuellen Ausgabe wird über die »Anfängerfehler« der Berufseinsteiger aufgeklärt. Da heißt es lapidar: »Wer ist der Statusstärkste? Auf wen hören die Leute? Und wer ist am unbeliebtesten? Von Letzterem sollte man sich schön abgrenzen.« Und weiter: »Wer sich vorschnell mit den Schwachen solidarisiert, hat seinen Aufstieg gleich am Anfang verbaut.« So ist das also.
Zur Zeit wird in manchen Branchen ein Stundenlohn von nicht einmal fünf Euro brutto gezahlt. Ich denke immer öfter, daß mir sogar 10.000 Euro netto im Monat zu wenig wären, um mich in dieser sozialdarwinistischen Tretmühle wohlzufühlen.
Manchmal bin ich ganz froh, daß ich arbeitslos bin …
Hugo Steffens
Modellkampf
»Gute Arbeit muß drin sein« – so der Slogan des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die Kundgebungen am 1. Mai. »Bausteine für Reden« hat der DGB-Bundesvorstand für diesen Tag zur Verfügung gestellt, und darin stehen viele vernünftige Forderungen zu Themen wie »Reallohnerhöhung«, »mehr Sicherheit fürs Alter«, »Arbeit, die nicht krank macht«, »Gleiches Geld für gleiche Arbeit«, »Gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für Zeitarbeit«, »Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen«.
Damit Arbeit in diesem Sinne »gut« werde, verlangt der DGB »eine gute Unternehmenspolitik«, die »soziale, gesellschaftliche und ökologische Verantwortung übernimmt«.
Gut, gut – aber wie bringt man die Unternehmen dahin, daß sie diesen Wünschen nachkommen und besagte Verantwortung an den Lebensbedürfnissen der ArbeitnehmerInnen ausrichten? Und welche anderen Interessen hindern sie daran? Darüber findet sich in den DGB-»Bausteinen« ein Satz, der ins Grübeln führt: Das »US-amerikanische Wirtschaftsmodell« sei es, dem die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung fehle und das deshalb eine Absage verdiene.
Es ist schon richtig, daß die US-amerikanische Ausformung des Kapitalismus sich historisch von der deutschen unterscheidet – aber geht es heutzutage in der Bundesrepublik um eine freie Wahl zwischen »Modellen«? Und werden die unternehmerischen Machteliten hierzulande sich zu einem eher sozialverträglichen »Modell« bekehren, wenn die Gewerkschaften ihnen gut zureden? Oder soll etwa Antiamerikanismus den früheren Antikapitalismus ablösen?
Der 1. Mai war einmal (inzwischen ist das Wort ziemlich abgegriffen) ein »Kampftag« der Arbeiterbewegung, an dem der harte Konflikt sozialer Klassen zum Ausdruck gebracht wurde. Ein »Modell«-Diskurs stiftet nicht die Unruhe, die erste Gewerkschaftspflicht wäre.
Arno Klönne
Berichte aus dem Kapitalismus
Die Linke beläßt es beim Grundsätzlichen, wenn es um die Wirtschaft geht, vom alltäglichen Kapitalismus weiß sie wenig oder sagt nicht, was sie weiß – der Vorwurf ist berechtigt. Aber es gibt Gegenbeispiele, jetzt auch in Gestalt eines viermal im Jahr erscheinenden Periodikums unter dem Titel lunapark 21, initiiert von Winfried Wolf. Gut lesbar sind die meisten Beiträge der ersten Ausgabe, nachvollziehbar auch für LeserInnen, die mit akademischer Wirtschaftswissenschaft nichts zu schaffen haben. Vergnüglich, wie es der Name der Zeitschrift nahelegen könnte, geht es in den Berichten und Analysen zur aktuellen Ökonomie nicht zu, hingegen findet sich in Fülle Material für die politische Auseinandersetzung mit jener Macht, die nicht vom Volke ausgeht. (Probeexemplare gibt es beim Verlag lunapark 21, Hubertusallee 42/44, 14193 Berlin.)
A. K.
Propagandawelt
Schreckliches wußte der Berliner Tagesspiegel zu berichten: »Linksextreme Gewalt nimmt zu.« Viele andere Tageszeitungen meldeten Gleiches, gestützt auf eine Information des Bundesministeriums des Innern. Diese bot – recht oberflächlich – die neuesten statistischen Daten über »politisch motivierte Kriminalität«; subsummiert waren nicht nur Gewalttaten, sondern Straftaten aller Art. Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen, nahm die Schlagzeilen in der Presse zum Anlaß, »eine fast monopolartige Fokussierung auf rechtsextreme Gewalt« zum »schlimmen Fehler« politischer Öffentlichkeit zu erklären. Mit anderen Worten: »Der Feind steht links.«
Der Mitteilung des Ministeriums hätte von Essen immerhin entnehmen können, daß im Berichtsjahr 2008 den rund 6.000 »links motivierten« Straftaten rund 18.000 von rechts gegenüberstanden. Allerdings ist auch dort nicht dargestellt, um welche Art von kriminellen Vorgängen und um welche Art von »Gewalt« es sich jeweils handelt. Verwiesen wird bei den »linksextrem motivierten Straftaten« auf eine Vielzahl von Fällen bei den Demonstrationen gegen den »G8«-Gipfel. Die leichte Zunahme der »linksextrem motivierten« Straftaten wird dadurch erklärbar. Offen bleibt, inwieweit zur Anzeige gebrachte Handlungen am Ende gerichtlich als Straftaten gewertet werden. Wichtiger noch: Durch diese statistische Berichterstattung wird eine Demo-Rangelei mit Polizisten gleichgesetzt mit lebensgefährlichen Attacken auf Ausländer. Eine propagandaträchtige Verwendung des Gewalt-Begriffs, mit der die Realität in einen Zerrspiegel kommt.
Marja Winken
Brief aus Italien
Nun also wieder Berlusconi. Und keine Linken mehr im Parlament. Warum?
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl zeigten sich viele Italiener wahlmüde. Das komplizierte Mehrheitswahlrecht garantiert keine adäquate demokratische Repräsentanz, der Anteil der erklärten Nichtwähler wächst selbst in diesem traditionell wahlfreudigen Land. Das bisher immer gegen Wahlenthaltung angeführte Argument, daß man sich damit widerstandslos ins Gegebene füge, zündet kaum noch, zu tief ist die Krise des Prinzips politischer Repräsentanz, die man seit geraumer Zeit in Italien wie anderswo beobachten kann.
Depression war schon seit Wochen der vorherrschende Gemütszustand vor allem der Linken. Und sie bleiben nun außen vor. Beim Regieren wird man auf sie in keiner Koalition mehr Rücksicht nehmen müssen. Und das in dem Land, in dem die KPI vor dreißig Jahren 35 Prozent der Wähler hinter sich hatte!
Der 70-tägige Wahlkampf spielte sich zwischen den beiden neu-gestylten Lagern der Partei des Volkes der Freiheit (PdL) Silvio Berlusconis und der Demokratischen Partei (DP) des früheren römischen Bürgermeisters Walter Veltroni ab und verlief weitgehend platt und emotionslos. Beide führten einen ähnlichen Fernseh-Marketing-Kampf um die verfügbaren Konsumenten-Stimmen, versprachen allen so ziemlich alles, wobei der 52jährige Veltroni mit seinen wahlstrategischen Anleihen bei Barak Obama (»yes we can!«) wesentlich lebendiger und »moderner« erschien als der 19 Jahre ältere Berlusconi, der sich mit seinen immer gleichen Parolen nun zum fünften Male um das Amt des Regierungschefs bewarb. Sein Glamour ist verblaßt.
Gegen Ende des Wahlkampfs ließ Berlusconi sogar Anzeichen von Nervosität erkennen. So lehnte er denn auch ein TV-Duell mit Veltroni ab und setzte vorsorglich wieder die These vom Wahlbetrug in Umlauf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt hingegen diesbezüglich bereits gegen Berlusconis sizilianischen Statthalter Marcello Dell’Utri (wegen Mafia-Kontakten vorbestraft). Drei Tage vor der Wahl forderte Berlusconi gar den noch amtierenden Innenminister Amato auf, alle Wahlscheine neu drucken zu lassen, da die vorhandenen zu unübersichtlich seien.
Die erst vor wenigen Monaten von Walter Veltroni (einst Kommunist, dann Sozialdemokrat) ad hoc gegründete Demokratische Partei, entschlossen, sich der Linken ganz zu entledigen, um ein auch für Unternehmer akzeptables Reformprogramm propagieren zu können, hat hoch gepokert – und ihr Fall ist tief. Aber Berlusconi war kein normaler politischer Gegner. Aufgrund seiner Wirtschafts- und Medienmacht hat er das politische Zentrum Italiens in den letzten 15 Jahren erheblich nach rechts verschoben, die Wirtschaft stagniert seit langem, in der zweijährigen Regierungszeit des Liberalkonservativen Prodi hat sich keine glaubwürdige reformistische Alternative entwickelt. Und die Linke ist mehrfach gespalten: in einen Flügel der neuen DP, die sogenannten Regenbogen-Kommunisten unter Bertinotti (bereits ohne Hammer und Sichel) und zwei kommunistische Neugruppierungen, die alle getrennt antraten. Die alte, schon von Carl von Ossietzky formulierte Weisheit, daß, während die Linken ihre Zwiste austragen, die Rechte klar zum Gefecht macht, ist längst in Vergessenheit geraten.
Das Gefecht ist im Gange, und der Wahlsieg, den Berlusconis Einheitspartei PdL mit Finis Post-Faschisten einfuhr, wird noch verstärkt durch das Anwachsen der radikal fremdenfeindlichen Lega Nord.
Italien setzte wieder auf den starken Mann. Es ist nicht zu erwarten, daß er seine Stärke für sozialen und demokratischen Fortschritt gebrauchen wird.
Susanna Böhme-Kuby
Walter Kaufmanns Lektüre
Blackwater – unter diesem Firmennamen agiert die Söldnerarmee des Erik Price aus Moyrock (North Carolina) weltweit. Der Millionenerbe eines Herstellers von Autoersatzteilen, ultrakonservativ, christlicher Fundamentalist mit direktem Draht zu George W. Bush, hatte ein Angebot parat: Meine Jungs schaffen jeden Einsatz billiger als die US-Armee.
Seine große Stunde kam, als am 11. September 2001 vier Flugzeuge vom Himmel stürzten, Bin Laden zum Erzfeind erklärt wurde, der Rachefeldzug gegen Afghanistan und bald auch der Krieg gegen den Irak begann. Price stand Gewehr bei Fuß, stieß im Pentagon auf offene Ohren, schloß für Blackwater die lukrativsten Verträge ab – und prompt rentierten sich all die Vorarbeiten auf dem 2830 Hektar großen Torfmoorgelände seiner Firma. Gut trainierte Blackwater-Krieger schwärmten hundertfach aus und landeten im Irak, schwer bewaffnet und ausgerüstet mit modernstem Gerät, Panzerfahrzeugen und Hubschraubern. Für einen durchschnittlichen Tagessold von 600 Dollar (das Dreifache dessen, was US-Soldaten bekommen) gingen sie zu Werke. Und hatten freien Lauf.
Ihre Untaten blieben ungesühnt, selbst als einer von ihnen einem Iraker ein Panzerabwehrgeschoß ins Gesäß jagte, das den Mann total zerfetzte. Lachend erzählte er davon seinen Kumpanen, die sofort ähnlich ausgerüstet werden wollten: Her mit solchen Geschossen, wir werden es denen zeigen!
Blackwater – was der Reporter Jeremy Scahill mit Erfahrungen aus dem Jugoslawienkrieg, Nigeria und dem Irak auf 350 dicht bedruckten Seiten ausgebreitet hat, verbindet sich zu einer Enthüllungsgeschichte, wie man sie selten liest. Sachlich, nüchtern, ohne Pathos führt Scahill zu der Erkenntnis: Unter der Bush-Regierung wurde die US-Demokratie ausgehöhlt. Wie sonst konnte es zur Übertragung militärischer Macht an Privatfirmen wie Blackwater und andere ebenso tatkräftige Unternehmen kommen.
Einmal begonnen, wird man das Buch nicht wieder weglegen – mit Denkpausen, versteht sich, wie nach diesem Satz: »Als Rumsfeld aus dem Amt schied, kam auf einen im Irak stationierten regulären US-Soldaten je ein privater Dienstleister.«
Walter Kaufmann
Jeremy Scahill: »Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten Privatarmee der Welt«, aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Rita Seuß, Verlag Antje Kunstmann, 350 Seiten, 22 €
Späte Wiederentdeckung
Im vorigen Jahr entschloß sich der Claassen-Verlag zu einer Neuausgabe des 1000-Seiten-Romans von Wassili Grossman »Leben und Schicksal«. Sein Kalkül ist aufgegangen. Während die (nicht ganz vollständige) Erstübersetzung 1984 im Albrecht Knaus Verlag kaum über Fachkreise hinaus Beachtung fand, woran auch eine Würdigung durch Heinrich Böll nichts änderte, gab es nun ein breites und lebhaftes Medienecho.Vor allem zeigten sich die Rezensenten davon angetan, daß sie bei Grossman etwas Wohlbekanntes wiederfanden, nämlich, wie es im Tagesspiegel hieß, den Gedanken »von der Gleichheit der beiden totalitären Systeme«, also des NS- und des Sowjetstaats. So konnte das Werk dem heute vorherrschenden Diskurs einverleibt werden.
Indes, nicht ideologische Passion hatte den russischen Autor aus jüdischem Hause auf den Systemvergleich gebracht; ein schmerzhafter Erkenntnisweg führte ihn dahin. Als Frontkorrespondent 1941/45 hatte Grossman die faschistischen Vernichtungsstätten von Babij Jar und Treblinka gesehen. Gemeinsam mit Ilja Ehrenburg verfaßte er 1944/46 ein »Schwarzbuch« über die Vernichtung der Juden durch die deutschen Okkupanten, das damals nicht erscheinen konnte. Bereits im ersten Teil seiner großen Stalingrad-Dilogie (1952, in der DDR 1959 unter dem Titel »Wende an der Wolga« publiziert) erwies sich Grossman als ein Erzähler mit unverstellter Wirklichkeitssicht, daher waren Drangsalierungen im Schriftstellerverband unvermeidlich. Doch wo andere Mut und Maßstäbe verloren, da wuchs Grossman über sich selbst hinaus – und als er im Jahre 1961 das Manuskript von »Leben und Schicksal« bei einer Moskauer Zeitschrift einreichte, waren deren Redakteure so erschrocken, daß sie sogleich nach der Staatsmacht riefen, die denn auch umgehend sämtliche verfügbaren Exemplare konfiszierte. Nach diesem Desaster waren dem Autor noch etwa drei Jahre Lebenszeit vergönnt. Und da auch ein Brief an Nikita Chruschtschow nichts fruchtete, entschloß er sich, den Roman in den Westen schmuggeln zu lassen, wo er Interesse in der Schweiz und in Frankreich fand, bevor man ihn hierzulande entdeckte ...
Der die Rezeption von »Leben und Schicksal« ständig begleitende Vergleich mit Lew Tolstois »Krieg und Frieden« ist, zumindest was den umfassenden Entwurf anbelangt, nicht ganz unberechtigt. Unverkennbar das Bestreben des Autors, wie sein großes Vorbild über die Charaktere einer verzweigten respektablen Familie in Geist und Moral der Gesellschaft einzudringen. Und er ist das auch für die »Tauwetter«-Zeit noch unerhörte Wagnis eingegangen, seine Figuren an die verruchten Orte beider Systeme, ins faschistische KZ ebenso wie in den sowjetischen Gulag, auch ins Lubjanka-Gefängnis zu führen und sie dort in Debatten zu verwickeln. Da gibt es Momente und Äußerungen, apokalyptische Sichten, die eher an Dostojewski erinnern.
Doch der Heldenkampf der Verteidiger von Stalingrad, den Grossman in seiner ganzen Härte, doch ohne mythenbildende Romantisierung schildert, steht auch dafür, daß es nicht zu einer den Freiheitswillen schwächenden Gleichsetzung der Systeme kommt. Über einen sowjetischen Major im KZ heißt es: »Er fühlte es, ihm war klar, daß er im Kampf gegen die Deutschen für ein freies russisches Leben kämpfte, daß der Sieg über Hitler auch ein Sieg über jene Lager werden würde, in denen seine Mutter, seine Schwestern und sein Vater ungekommen waren.« Eben dies ist das innere Pathos des Romans.
Doch das Werk hat neben vielen starken Passagen – beispielsweise über die moralischen Prüfungen eines herausragenden Wissenschaftlers, über den Alltag der ins Hinterland Evakuierten oder die unsäglichen Zumutungen der sowjetischen Bürokratie – auch Schwächen. Erstaunlich, was Grossman im Unterschied zu den rein karikierenden Verfahren literarischer Zeitgenossen im Bemühen um differenzierte Darstellung der deutschen Seite leistet, doch wirkt hier manches konstruiert. Auch die eingefügten essayistischen Kapitel bringen nur mäßigen Gewinn. Das Werk als Ganzes verdient Respekt. Eine gehaltvolle Lektüre.
Willi Beitz
Wassili Grossman: »Leben und Schicksal«, aus dem Russischen von Annelore Nitschke u.a., Claassen Verlag, 1088 Seiten, 24.90 €
Aus Netty wird Anna
»Studierte 1920–1924 in Heidelberg und Köln Kunstgeschichte und Sinologie«, so informieren seriöse Lexika über eine frühe Lebensetappe von Anna Seghers, und das mag ausreichen als ein Stückchen eines Lebensweges, der einigermaßen logisch begann: Die einzige Erbin aus begütertem Haus studiert ein Fach, das zum Beruf und Geschäft von Vater und Onkel paßt: Sie betreiben einen gehobenen Antiquitätenhandel. Aber dann bricht die Logik ab: Die junge Frau bringt aus Heidelberg einen überhaupt nicht in das Geschäft passenden künftigen Partner mit, und sie will sich weder weiter mit Rembrandt noch mit ostasiatischer Kunst beschäftigen, sondern ausgedachte Geschichten erzählen. Der Schreck in der Familie muß groß gewesen sein.
Sigrid Bock, zeitlebens mit Anna Seghers beschäftigt, will alles so genau wissen, daß aus der Erwähnung des begüterten Mainzer Elternhauses eine weit zurückreichende Darstellung von Familiengeschichte und Familienhintergründen wird, bis zu den Ururgroßeltern, die arme Juden waren. Zusätzlich erhält man also eine Lektion über Schicksale rheinischer Juden im 19. Jahrhundert. Die Biographin kann über die Studentenzeit nicht nur mitteilen, welche Seminare und Vorlesungen die Studentin besuchte, sie hat auch ergründet, welches Geistes Kind die Dozenten und Professoren waren, was also Netty Reiling – wie sie damals hieß – zu hören bekam, was sie gelesen hat, worüber in ihrem Kreis diskutiert wurde.
Eine bewundernswert detailversessene Arbeit! Sie endet in »St. Barbara«: Mit der Erzählung vom »Aufstand der Fischer« dort (1928) bekennt sich Netty Reiling definitiv nicht nur zum Pseudonym Anna Seghers, sie bekennt sich auch als Anwältin der Schwachen und Aufrührerischen und wird für diese Erzählung als vielversprechende junge Autorin mit dem begehrten Kleist-Preis ausgezeichnet. Auf den Weg dorthin, das weiß man nun dank Sigrid Bock genauer, führten sie sehr verschiedene Gefährten, und sie nahm Einflüsse auf, die ihre weitere Entwicklung verständlicher machen. Die Faszination, die von ihrem Werk ausgeht, bleibt.
Christel Berger
Sigrid Bock: »Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers«, Karl Dietz Verlag, 303 Seiten, 19.90 €
Ein schlesischer Dichter
Ende März verbreiteten Hörfunk, Fernsehen und viele Zeitungen die Nachricht vom Tod des aus der DDR bekannten Satirikers Jochen Petersdorf. Wie üblich schrieb einer vom anderen ab.
Nur die wenigsten der zur Zeit amtierenden Redakteure wußten mehr, als daß der Tod des J.P. der Leserschaft vor allem in den östlichen Bundesländern nahe ging.
Um nichts falsch zu machen, relativierten sie: Nach Verlagsangaben (!) »soll« er ein Millionenpublikum erreicht und seine »sogenannten« Funzelbücher und »Das Dicke Petersdorfbuch« »sollen« wiederholt Nachauflagen erfahren haben. Mit seinen Werken, die er zum eigenen und zum Gaudi der Nation auch öffentlich vortrug, »soll« er ganze Säle gefüllt haben, und um die aktuelle Version eines Grimmschen Märchens zu hören, »sollen« am ersten Weihnachtsfeiertag die Familien zwischen Frühstück und Gänsebraten nicht ins Rohr, sondern in die Röhre geguckt haben. Leser und Zuhörer »sollen« ihm auch nach dem Ende der DDR treugeblieben sein. Die Redaktion des Eulenspiegel soll er in den 80ern »verlassen« haben. (Nix Genaues weiß man nicht.)
Verehrte Kollegen Zeitungsmacher: Der Konjunktiv ist der Wahrheit ihr Tod!
Und weil wir nun nicht mehr von Petersdorf erheitert werden, müssen wir Scherze auf Petersdorfs Kosten erdulden. So meldete das St. Galler Tageblatt, Kulturjournal, Ausgabe für Stadt und Region St. Gallen: »Der schlesische Satiriker Jochen Petersdorf ist gestern 73jährig nach langer Krankheit in Berlin verstorben.«
Endlich ist die Wahrheit geradegerückt. Wie immer war der DDR-Bürger falsch informiert: Wenn Petersdorf nach Hause zur Mutter fuhr, so machte er sich auf nach Kaltennordheim in der Rhön. Seinen Geburtsort Liegnitz hat er nie wieder besucht.
Sein Gedenkstein steht auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde nahe bei denen von Hansgeorg Stengel, Louis Rauwolf, Leo Haas, Otto Nagel und Käthe Kollwitz.
Das hätte ihm gefallen.
Katharina Schulze
Die Komödiantin
Renate Richter zählte wenig über zwanzig Jahre, als Helene Weigel sie ans Berliner Ensemble engagierte. Für eine Rolle in »Die Tage der Commune«. Das war 1962. Damals hieß es: Sie wird eine zweite Giulietta Masina. Gesichert ist, sie war ganz schnell und unverwechselbar Renate Richter.
Clown und Kobold ist sie auch. Dazu schnörkellos, wesentlich, impulsiv, schwärmerisch; sie ist Stimmungskanone und Giftmischerin, man nennt sie »die Furchtlose«, »die Kraftvolle«. Von der Possenreißerin bis zur Tragödin – Renate Richter beherrscht die gesamte Klaviatur der Gefühle, weiß ihre Mittel zu gebrauchen und hat die Gabe, Schwierigkeit mit Leichtigkeit vorzutragen. Im Sinne Brechts: »Das Leichte, das schwer zu machen ist.«
Sie stand zusammen mit Wolf Kaiser und Hilmar Thate auf der Bühne des Berliner Ensembles, die sie, aus Solidarität, gemeinsam mit ihrem Ehemann, Manfred Wekwerth, nach Querelen mit den Brecht-Erben verließ.
Darauf folgte eine glückliche Zeit, Theaterarbeit in Zürich. »Ich habe mich dort sehr aufgehoben gefühlt«, sagt Renate Richter. Sie war Lady Anne in Shakespeares Richard III., Helmuth Lohner spielte ihn; es folgten die Schura in Gorkis »Jegor Bulytschow« und Shen Te in Brechts »Der gute Mensch von Sezuan«.
In 30 Jahren hat die Richter zahllose Filme gedreht. Erinnert sei an »Die Toten bleiben jung« nach Anna Seghers, an ihre Dascha in »Zement« nach Gladkow und »Die unheilige Sophia« nach Eberhard Panitz.
1979 wurde Wekwerth Intendant des Berliner Ensembles. Gemeinsam arbeiteten sie wieder auf der Bühne von Brecht/Weigel, bis zur Spielzeit 1992/93. Es folgte die Kündigung. Für beide. »Eine Kündigung in viereinhalb Minuten. Nach 15 Jahren.«
Hinter diesem dürren Satz steckt eine schmerzhafte Geschichte. Sie zu erzählen, ist hier nicht beabsichtigt. Renate Richter soll heute gefeiert werden, nicht gefeuert.
Sie hat jetzt siebzig Lenze hinter sich, steckt voller Lebenskraft und Spielfreude. Trotz der Fallhöhe, die zu verkraften war. Vom Staats- zum Off-Theater – das war ein Sturz, auf den war sie nicht vorbereitet. Sie hat ihn überstanden. Gemeinsam mit ihrem Mann und dem Musiker Syman tourte sie mit einer Brecht-Revue durch die deutschsprachigen Lande, trug ihre Arbeit in 80 Spielorte, auch Havanna und Istanbul feierten sie. Gegenwärtig singt R.R. Lieder nach Texten von Brecht, arbeitet mit Musikern der Gruppe »Emma« landauf, landab. Die außergewöhnliche Verbindung Brecht und Rockmusik löst überall Begeisterungsstürme aus. Das möge ihr und ihrer Truppe auch künftig gelingen. Glückwunsch!
Anne Dessau
Press-Kohl
Mit dem Schlagwort »better Fly«, was nach Meinung der »Lufthansa« besseres Fliegen verheißt, offeriert diese Firma: »Westerland / Sylt bis zu 3 x wöchentlich hin und zurück ab 99 Euro«. Klingt selbst für Fußgänger verlockend, die nicht unbedingt 3 x wöchentlich in Westerland / Sylt hin- und hergehen möchten.
Hin und zurück ab 99 Euro!
Aber von wo aus hin und zurück nach Westerland / Sylt?
Von Hamburg oder von Itzehoe? Von Husum-Marktplatz oder von Sankt Leningrad? Von Palermo oder von Kapstadt?
Das werden Sie erst merken, wenn man Ihnen nach der Notlandung in Kampen / Sylt zuruft: »Weiterflug von Kampen / Sylt mit Motor-Gleitern nach Westerland / Sylt und zurück ab 99 Euro!«
*
Am 25. März 2008, so erzählte mir Anneliese, berichtete die Fernseh-Tagesschau von der »Entzündung des Olympischen Feuers für Peking«, ohne daß ein Massensportarzt etwas zur Diagnostik oder Therapeutik dieser Krankheit mitteilte!
Sicher unterliegt die Tagesschau der ärztlichen Schweigepflicht.
*
Ich bin, wie schön, zu einem Besuch Frankreichs ermuntert worden, und zwar zu einer »8-tägigen Rundreise durch das Loiretal mit Besuch von Paris«. Na klar: Wer sich in Paris an der Loire aufhält, besichtigt auch das dazugehörige Tal. Doch droht mir noch viel mehr:
»Mehr als 800 Bauwerke wie Schlösser, Herrensitze und Burgen, davon 442 als historisch bedeutende Monumente klassifiziert, laden Sie zu einer unvergeßlichen Reise durch die jeweiligen Kunstrichtungen ein ...«
Wie denn? Nicht mehr als 442 als historisch bedeutend klassifizierte Monumente in acht langen Tagen?
Und was sollen wir Touristen nachmittags und abends anstellen?
Felix Mantel