Hamlet sieht nicht, auf wen er einsticht, wir sehen es nicht. »Tot, tot, tot!«, wie es Kinder rufen im Spiel. Einer, der sehr lebendig war, alles wußte, alles sah, sehen, beobachten ließ, wird abgestochen wie eine Ratte – aus Versehen. Polonius, der Oberkämmerer, Berater des Königs, stirbt, vom Mörder ungesehen, hinter der Tapetentür, stirbt an des Königs Stelle, des neuen Königs, der den alten, seinen Bruder beseitigte und Gertrud, dessen Frau, heiratete. Bekannt.
Im Hamburger Thalia-Theater nahm sich Michael Thalheimer diesen Brocken vor, kürzte ihn auf zweieinhalb Stunden und formte ihn nach seinem Bilde. Was er mit Büchner anstellte, Woyzeck als Täter (Ossietzky 7/05), war ein Verbrechen. Shakespeare aber hält viel aus.
Der neue Claudius (Felix Knopp) hat eine blutigrote Krone, in die er erst hineinwachsen muß. Er knuddelt sie, hält sich an ihr fest. Und ist froh, mit Gertrud (Victoria Trauttmansdorff) nach hinten verschwinden zu können, sich in ihre Arme zu flüchten, sich trösten zu lassen von der Königinwitwe, Schwägerin, Ehefrau. Wir sehen, wie sie es treiben, lustvoll, der ganze Hofstaat Publikum kann es sehen, weiß es sowieso. Hamlet (Hans Löw) spricht ganz vorn sein: »O schmölze doch dies allzu feste Fleisch…«, emotions- und teilnahmslos, mit leerem Blick. Und die Zuschauer sind froh, nach mehr als minutenlangem Schweigen endlich Sätze zu hören – auch wenn sie kaum zu verstehen sind. Den Sein-oder-Nichtsein-Monolog dürfen sie gleich zweimal erleben, laut aus der Schwärze gesprochen und leise von vorn.
Wenn Hamlet sich in sich selbst zurückzieht, wie erstarrt dasteht, hechelt Polonius (Norman Hacker) herum, will überall sein, alles sehen, um seinem neuen Herrn, dem König Claudius, berichten zu können. Überwachungskameras gibt es noch nicht, also müssen Menschen eingesetzt werden: Rosenkranz (Moritz Grove) und Güldenstern (Andreas Köhler), sein Diener Reinhold (Peter Per), sogar die eigene Tochter, Ophelia (Paula Dombrowsky). Sie, die Hamlet liebt, wird als Werkzeug benutzt, um Hamlet zu Fall zu bringen. Im kurzen weißen Flatterkleidchen tut sie, was der Papa ihr vorschreibt – ihre innere Spannung zeigt sich in ununterbrochener Bewegung der Beine, im ständigen Wippen und Knicksen. Erst als sie wahnsinnig wird, nach der Ermordung des Vaters, findet sie zu sich selbst, verweigert sich dem Maskenspiel, an dem alle teilnehmen. Verschenkt ihr Herz als roten Luftballon, den sie dem Himmel weiht. Anrührend-kitschig.
Die Inszenierung ist in ihrer formalen Strenge zeitlos, aber im Polonius läßt sich so mancher Politiker wiederfinden. Der Überwachungsübereifer Schäubles, Otto Schilys Redefluß. »Geduld nur! Ich meld Euch alles!« Polonius ist Stasi, ist BKA und BND, ist der beflissene Nachbar. Wie er einen Brief Hamlets an Ophelia hervorzaubert und ihn dem neuen Chef, Claudius, vorträgt – ein Kabinettstückchen. Und was er ganz ohne Worte verrät, ist nicht nur komisch, ist entlarvend, bestes Stummfilmtheater, und es zeigt seine Lebensangst. Dieser Wechsel von Hektik, Schreien und völligem Stillstand ist charakteristisch für die Aufführung. Hamlets Schweigen, dann die heiser gebrüllten Ausbrüche: alles wahrnehmen müssen und nicht empfinden können, sich selber nicht spüren, nicht handeln oder zu spät.
Der Freund Horatio und die Totengräber fehlen. Der Geist des Vaters (Markus Graf) erscheint nackt mit Helm und scheppernd nachgezogenem Schwert. Warum muß ein Geist nackt sein? Ein behinderter Schauspieler führt das Stück im Stück auf, das entlarven soll – hier ein Spiel mit Puppen. Im zweiten Teil kommt Farbe in die Szene, viel Blut. Das Fechten läuft emotionslos ab, fast maschinell, langweilig und darum lustig. Der Tod ist vorprogrammiert, wird erwartet – auch von Hamlet. Laertes (Jörg Koslowsky) muß den Tod seines Vaters Polonius rächen. Wenn Hamlet seine Degenspitze auf Laertes’ Brust sticht und »getroffen« sagt, wirkt es wie ein Witz. Wo bleibt die Dramatik? Voltaire hat das Stück einst als vulgär und barbarisch abgetan. Daß Thalheimer es jetzt als extrem stilisiertes Volkstheater auf die Bühne bringt, läßt sich als Reaktion auf Voltaire und auf die erdrückende Zahl der Inszenierungen begreifen. Wenn am Schluß die Mitwirkenden wie am Anfang an der Rampe sitzen, blutbeschmiert und tot, bleibt als Rest – und das bekommt das Thalia mit seiner miserablen Akustik am besten hin – nur Schweigen.
Viel verdienter Beifall besonders für Norman Hacker als Polonius und für Hans Löws Hamlet – cool bis dorthinein, wo ein Herz sitzen müßte.