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Rechtsextremismus bei Jugendlichen  (Ulla Jelpke)

Die üblichen Antworten auf Gewalt von rechts in der Bundesrepublik Deutschland sind Wegschauen und Verdrängen. Diese Erfahrung hat die Linke im Bundestag in ihrem jahrelangen Kampf um eine korrekte Erfassung der Zahlen rechtsextremistischer Straftaten, vor allem der Gewalttaten, immer wieder gemacht. Mit allerlei Tricksereien wurde versucht, die Statistik zu manipulieren, die Zahlen niedrig zu halten und damit letztendlich die rechte Gewalt zu verharmlosen. Das beharrliche Nachfassen linker Politikerinnen zwang jedoch schließlich die Bundesregierung, neue, realistischere Erfassungskriterien für die Straftaten der Neonazis einführen.

Daher kommt heute niemand mehr an Fakten vorbei, wie sie beispielsweise der sächsische Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) im März bei der Vorstellung der Kriminalstatistik für 2008 einräumen mußte. Demnach sind in Sachsen noch nie so viele rechtsextremistisch motivierte Straftaten registriert worden wie im vergangenen Jahr. Mit 2425 Delikten stieg die Zahl im Vergleich zu 2007 um 271 an, also um 12,6 Prozent. Im Jahre 1991 hatten die Kriminalitätsstatistiker in Sachsen 215 derartige Delikte registriert.

Überdurchschnittlich stieg den Angaben Buttolos zufolge auch die Anzahl fremdenfeindlicher und antisemitischer Straftaten. Mit 213 fremdenfeindlichen Delikten im Jahre 2008 wurden 55 Prozent mehr registriert als 2007, mit 141 antisemitischen Fällen sogar fast doppelt so viele wie 2007. Die meisten der erfaßten Straftaten waren Propagandadelikte.

Während die aufgrund hartnäckiger Oppositionsforderungen eingeführten neuen Erfassungskriterien eine Bagatellisierung rechtsextremistischer Straftaten erschweren, macht Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) in Hannover, die Erfahrung, daß unangenehme Erkenntnisse immer noch gern verdrängt werden.

Im März wurde die besorgniserregende KFN-Studie über den wachsenden Rechtsextremismus unter Deutschlands Schülern veröffentlicht, die im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojektes mit dem Bundesinnenministerium erstellt worden war. Der Forschungsbericht mit dem Titel »Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt« kam zu dem Ergebnis, daß Jugendgewalt insgesamt rückläufig sei. Zugleich stellte das Forscherteam aber eine erhebliche Nähe vieler Jugendlicher zum Rechtsextremismus fest. Demnach sind 4,9 Prozent der 15jährigen Jungen und 2,6 Prozent der 15jährigen Mädchen Mitglied in rechten Gruppen oder Kameradschaften.

Der Veröffentlichung folgten prompt Abwiegelungsreaktionen, den erfahrenen Wissenschaftlern wurden methodische Fehler vorgeworfen. Die taz formulierte unter der Überschrift »Verwirrung um rechte Zahlen«, es gebe »Zweifel, ob die Zahlen des Kriminologen Pfeiffer korrekt sind«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gehe, so die taz, bisher von etwa 31.000 Rechtsextremisten aus. Wenn nach dem Forschungsbericht schon 20.000 Neuntkläßler einer rechtsextremen Gruppierung angehören, dann müsse es insgesamt viel mehr Rechtsextremisten geben. Der taz-Autor schlußfolgerte: »Oder aber Pfeiffers Studie ist falsch.« Bayerns Innenminister Joachim Herrmann wählte einen anderen Ansatz für seine Kritik an der Untersuchung. Der CSU-Politiker behauptete, die an die Schülerinnen und Schüler gestellte Frage, ob es in Deutschland zu viele Ausländer gebe, sei ungeeignet, um rechtsextreme Einstellungen zu erforschen.

Pfeiffer setzte sich in der taz sofort zur Wehr: »Der Verfassungsschutz, mit dessen Zahlen unsere … verglichen werden, hat kein vollständiges Bild. Er hat nur seine Hellfelddaten von erkannten Gruppierungen. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich wie bei Raubdelikten: Da haben wir auch das etwa Dreifache dessen gemessen, was die Polizei weiß. Wir erfassen eben auch nicht angezeigte Straftaten. Es ist in der Forschung völlig normal, daß die Dunkelfelddaten über den Hellfelddaten liegen.«

Vorwürfe, die von ihm gewählte Kategorie »rechtsextreme Gruppe« sei zu ungenau, wies Pfeiffer als die »üblichen Verharmlosungsversuche« zurück. Die Jugendlichen hätten gewußt, was bei der Frage nach der Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe gemeint gewesen sei, betonte Pfeiffer. Eine »Riesenzahl von Jugendlichen« habe diese Frage ja auch verneint, obwohl sie rechtsextreme Einstellungen hätten. Diese Zahl sei fast doppelt so hoch. »Das haben die Jugendlichen selber genau unterschieden«, erläuterte Pfeiffer.

Immerhin nimmt die Polizeigewerkschaft die Studie ernst. Ihr Vorsitzender, Konrad Freiberg, beklagte den Rückzug von Staat und Gesellschaft aus einer aktiven Jugendarbeit für rechte Gruppierungen besonders in ländlichen Regionen. In die gesellschaftliche Infrastruktur müsse mehr investiert werden. Die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Diane Golze, kritisierte, daß die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren außerschulischen Bildungs- und Betreuungsangeboten einer Rotstiftpolitik ausgesetzt sei, die sie an den Rand der Handlungsfähigkeit bringe.

In dem Forschungsprojekt waren in 61 zufällig ausgewählten Landkreisen und kreisfreien Städten rund 53.000 Schülerinnen und Schüler der vierten und neunten Jahrgangsstufen befragt worden. Gestützt auf frühere Schülerbefragungen und die neue bundesweite Datenerhebung wurde festgestellt, daß die Jugendgewalt in den seit 1998 untersuchten Städten überwiegend leicht gesunken oder zumindest weitgehend konstant geblieben sei. In einem Teil der Gebiete hätten jedoch Körperverletzungsdelikte deutlich zugenommen. Dies könne sich daraus erklären, daß die Anzeigebereitschaft zugenommen habe. Er sehe aber die ausländerfeindlichen Einstellungen und Verhaltensweisen deutscher Jugendlicher mit großer Sorge, sagte Pfeiffer bei der Präsentation der Forschungsergebnisse. So seien rund 19 Prozent der befragten Jungen als sehr ausländerfeindlich einzustufen, ebenso 9,6 Prozent der Mädchen. Auf antisemitische Einstellungen ließen die Antworten von 6,4 Prozent der Jungen und 2,1 Prozent der Mädchen schließen.

Im einzelnen heißt es dazu in der Studie: »Die Quote der Jugendlichen, die der Aussage ›In Deutschland gibt es zu viele Ausländer‹ uneingeschränkt zustimmt, beträgt 29,7 Prozent. In hohem Maße ausländerfeindliche Einstellungen haben 14,4 Prozent offenbart; als eindeutig rechtsextrem (ausländerfeindlich gekoppelt mit entsprechendem Verhalten) sind 5,2 Prozent einzustufen, stark antisemitisch haben sich zudem 4,3 Prozent der deutschen Jugendlichen geäußert. Zu diesen Quoten kommt jeweils ein deutlich höherer Prozentsatz von deutschen Jugendlichen hinzu, die ausgeprägte Sympathien zu solchen Einstellungen und Verhaltensweisen aufweisen (›zu viele Ausländer‹ 34,8 Prozent, Ausländerfeindlichkeit 26,2 Prozent, Rechtsextremismus 11,5 Prozent, Antisemitismus 8,4 Prozent) … Im Vergleich der Geschlechter dominieren die Jungen klar bei allen vier Kategorien ...«

Als begünstigende Ursachen fanden die Forscher folgende Faktoren heraus: niedrige Fähigkeit zur Selbstkontrolle, innerfamiliäre Gewalt, intensive Nutzung medialer Gewalt sowie häufiger Alkoholkonsum. Regionale Unterschiede bei den Befragungsergebnissen erklärten sich möglicherweise aus dem jeweiligen Ausmaß an lokalen Präventionsbemühungen oder dem Vorhandensein rechtsextremer Vereinigungen. Der vollständige Forschungsbericht findet sich im Internet unter www.bmi.bund.de und www.kfn.de)