erstellt mit easyCMS
Titel0810

Die Teebeutel-Kampagne  (Victor Grossman)

An einem frostigen Dezemberabend des Jahres 1773 entern im Hafen von Boston hundert Männer, manche als Indianer verkleidet, drei englische Schiffe und werfen die gesamte Ladung, 342 Kisten Tee, über Bord. Tee mischt sich schlecht mit eisigem Salzwasser, und niemand mag dafür noch Einfuhrsteuern zahlen. Die Regierung in London ist wütend über diesen demonstrativen Angriff auf ihren Anspruch, in den Kolonien Steuern zu erheben. Die Forderung der Amerikaner »Keine Besteuerung ohne parlamentarische Vertretung« weist sie schroff zurück und beschließt Strafmaßnahmen, die prompt noch stärkeren Widerstand hervorrufen: Binnen sechzehn Monaten führen sie zur Amerikanischen Revolution und binnen zehn Jahren zur Gründung der USA. Von dieser kecken Piraterie las ich als Schuljunge in meinem patriotischen Geschichtsbuch.

2009, Barack Obama hatte sich kaum im Weißen Haus eingerichtet, fiel es einigen seiner Gegner ein, den Symbolwert der frührevolutionären »Boston Tea Party« an sich zu reißen. Eine ihrer ersten »Tea Parties« fand unweit des Hafens in Boston statt. Bald trafen sie sich in vielen Bundesstaaten, oft mit Trommlern, die Kostüme aus dem 18. Jahrhundert trugen, auf dem Kopf den Dreispitz, und sie winkten mit Teebeuteln. Man könnte an Fasching denken. Doch da ist kein Helau und Alaaf. Eher ist es Haß, was da brodelt.

Woher stammt er? Eine Quelle ist die Krise. Die Arbeitslosigkeit ist ähnlich hoch wie in Deutschland. Aber in Deutschland ist das Netz, das die Arbeitslosen auffängt, trotz aller Risse immer noch viel stärker. Ein besonderes Problem in den USA besteht darin, daß viele Menschen in Eigenheimen wohnen; wenn sie den Arbeitsplatz verlieren, können sie bald die Hypothek nicht mehr abbezahlen. Und die meisten Berufstätigen sind, oft samt Familie, bisher nur über ihre Arbeitsstelle krankenversichert – verlieren also den Versicherungsschutz, wenn sie arbeitslos werden.

Man sollte annehmen, daß auch dem letzten US-Bürger klar ist, wann die Krise aufkam, nämlich in der Amtszeit von George W. Bush, und wer also dafür verantwortlich zu machen ist: eben Bush und die Republikaner. Tatsächlich haben das so viele begriffen, daß das Erstaunliche, fast Unglaubliche geschah: Etwas mehr als die Hälfte wählten Obama, den Afro-Amerikaner. Es waren aber weniger als die Hälfte der Weißen.

Viele Amerikaner gaben – nicht ohne Grund – den Großbanken einen Hauptteil der Schuld an der Krise. Doch Obamas Regierung fand es ebenso wie beide große Parteien notwendig, diese Banken zu retten. Kaum waren die Finanz-Unternehmen wieder flott (manche waren nie leck gewesen), da schenkten sie ihren Chefs wieder Millionen an Salären, Aktien und Boni. Die Medien erwähnten Verbindungen zwischen den Banken und der Regierung; wie zur Bestätigung ernannte Obama Minister und Berater aus diesen Kreisen.

Klein- und Vorstadtamerikaner, besonders in den südlichen und mittleren Bundesstaaten, neigen zu Mißtrauen gegen akademische, elitär auftretende oder zumindest so wahrgenommene Typen, die sie gleich an die Großstädte denken lassen, besonders an die der West- und der Ostküste: New York, Boston, San Francisco, Washington. Man weiß: Solche Typen reden fein, leben fein, sind aber oft nicht mal kirchlich, mitunter sind sie gar jüdisch und glauben an Darwins Evolution ohne Gottes Hand. Man weiß: Diese Typen sind gegen Waffenbesitz, aber für Homo-Ehen und Abtreibung. Für die christlich-fromme, männerdominierte Welt der Weißen, die sich zunehmend von Latino-Einwanderern und aufstrebenden Schwarzen bedroht sieht, kam nun das Allerschlimmste: ein schwarzer Präsident! Dazu ein Elitärer von der Harvard-Universität, der fein spricht, aber sich im Ghetto von Chicago mit Radikalen gemein gemacht hat. In der Wut darüber äußerte sich Angst vor dem Verlust der gesellschaftlichen Führungsrolle.

Die Tea-Party-Bewegung spricht viele Wütende, Frustrierte, Verängstigte an: diejenigen, die Obamas US-amerikanischen Geburtsort bezweifeln oder allen Ausländern mißtrauen, unfromme Regierungshasser, christliche Fundamentalisten, Militaristen, privat bewaffnete Ruhe- und Ordnungshüter, Reste der faschistoiden John-Birch-Gesellschaft und auch Zionisten, die Israel gegen den Islam stärken wollen. Vor allem die vielen, die sich Steuern und Regierungsprogrammen widersetzen, obwohl sie selbst von Staatsrenten oder Gesundheitsmaßnahmen abhängig sind; sie merken den Widerspruch gar nicht.

Einig sind sie in ihrem flaggenreichen Superpatriotismus, doch dieses Konglomerat hat nichts Festes, auch keine Zentrale. Die Republikaner würden sie gern an sich ziehen, etliche haben nichts dagegen, andere hätten lieber eine neue Partei, frei vom Einfluß der Lobbies von Banken und Industriekonzernen. Manchen sind die Republikaner nicht extrem genug, weil die zwar gegen Obama opponieren, dabei aber aus Sorge, gemäßigte Wähler abzuschrecken, zu wenig die Lieblingsthemen Guns, God and Gays (für Waffenbesitz, für Gotteswort, gegen Schwule) betonen.

Die Extremen finden in Funk und Fernsehen wirkungsvolle Sprecher. Glen Beck, der für Rupert Murdochs mächtige Fox News moderiert, bietet 6,5 Millionen regelmäßigen Zuschauern ein Trommelfeuer gegen Obama: Der sei aus Kenia und kein geborener Amerikaner, er sei Moslem, kein Christ, er sei Sozialist, Kommunist, Nazi, egal was, wenn es nur gefährlich klingt, und er wolle »unsere Freiheit auslöschen«. Neulich stießen die Rechten auf die »Cloward-Piven-Strategie« und erschreckten ihr Publikum damit. Aus einem Aufruf zweier Linker zu breiterer Wahlbeteiligung konstruierte man ein Komplott zur Machtübernahme, das sich von Che und Mao bis zu den Umweltschützern erstreckt – und zu Barack Obama. Beck illustriert diese Verschwörungstheorien an der Kreidetafel, vergießt beinahe echte Tränen und warnt vor davor, daß der »schwarze Rassist und Marxist« Obama, Konzentrationslager bauen wolle.

Der unerwartete Sieg Obamas mit der Gesundheitsreform löste bei allen Rechten einen Schock aus – stark, aber kurzlebig. Der Welle wütender Enttäuschung darüber, daß nun bei den Zwischenwahlen im November der Rechten nicht mehr ganz so sicher scheint, folgte eine Gegenoffensive, an deren Rändern die Gewalt hervorschielte. Man bespuckte einen schwarzen Abgeordneten, beschimpfte einen zweiten als Schwulen, es mehrten sich Todesdrohungen, Ziegelsteine flogen, ein Plan für einen Sprengstoffanschlag wurde entdeckt.

Ein führender Teebeutelbrigadier ist Dick Armey. Er gehörte zu den höchstrangigen Republikanern im Kongreß, bis ihn ein Skandal das Amt kostete. Jetzt ist er ein Lobbyist mit einem geschätztem Jahreseinkommen von 750.000 Dollar. Manchen Tea-Party-Leuten ist das zu viel. Stärker tritt zur Zeit Sarah Palin auf, die 2008 für die Vizepräsidentschaft kandidierte. Nach der Niederlegung ihres Gouverneursamtes in Alaska bekam sie ein Fernsehprogramm bei Fox News, schrieb eine Bestseller-Autobiographie (oder ließ sie schreiben) und bereist nun das Land. Ihre schrille Stimme, ihr stetes Lächeln, ihre volkstümlich klingenden Sätze betören ihre Zuhörer, die bisher kaum merken, daß Palins Klischees und Plattheiten nichts enthalten außer Haß auf Obama und alles Fortschrittliche. Nach der Niederlage im Kongreß rief sie den Anhängern zu: »Nicht nachgeben, nachladen!« Auf ihrer Website hat sie Fotos von Kongreßleuten, die es im November zu schlagen gilt, mit einem Fadenkreuz markiert.

Viele einfache Gemüter lieben Palins lächelnde Art, ihr »Sind wir nicht alle gute Kerle; wenn es nur die nicht gäbe, die uns die Freiheit rauben wollen« mit rassistischem Unterton. Gewiß, das klingt anders als jenes berüchtigte »Wollt Ihr den totalen Krieg?« Doch ich muß daran denken, wenn ich sehe, wieviele Menschen an jeder gewünschten Stelle Ja oder Nein brüllen, und ihren Haß auf ein paar tapfere Zwischenrufer entladen.

Die meisten Teilnehmer der Tea-Parties gieren nach der Wahl im November und hoffen, dann die Mehrheit der Demokraten im Kongreß beenden oder zumindest verringern zu können. 2012 geht es um das Weiße Haus!

Endlich hat sich Obama kraftvoll für sein Programm eingesetzt, auch wenn er sich den Versicherungskonzernen beugte, denen das Reformgesetz nun viele Vorteile verschafft. In einigen Fragen zeigt er sich kämpferischer, in anderen noch schwach und in manchen direkt besorgniserregend: Afghanistan, Lateinamerika, Umweltschutz, die Foltermethoden der Vorgänger. Für die Novemberwahlen bleibt die Arbeitsplatz-Frage die wichtigste. Wenn er hier etwas erreicht, wenn es ihm gelingt, die von Arbeitslosigkeit Betroffenen oder Bedrohten zu überzeugen, haben die Demokraten Chancen. Doch entscheiden werden schließlich die Kräfte, die ihn bisher schon unterstützt haben, aber nun möglichst vereint Druck auf ihn ausüben müssen. Eine große eigenständige Gegenkraft muß her! Leicht gesagt. Aber kommt sie nicht zustande, sehe ich der Zukunft der USA mit großer Sorge entgegen. Die Tea-Party-Bewegung, heute noch unscharf und widerspruchsvoll, besitzt ein böses Potential für eine Zukunft, die weitaus eisiger wäre als damals das Tee-Wasser im Hafen von Boston.