Wenn vom Afghanistan die Rede ist, hört man gelegentlich von Kriegsgegnern, die USA und ihre Verbündeten bewirkten dort nichts außer immer größeren Mohn-Ernten. Das ist sarkastisch gemeint – so als ob die tölpelhaften Besatzer keines ihrer Ziele erreichten, sondern im Kampf gegen Drogen sogar das krasse Gegenteil. Aber die Wahrheit ist schlimmer: Die vermehrte Opiumproduktion ist nicht etwa eine unerwünschte Folge dieses verbrecherischen Krieges, sondern, deutlich erkennbar, einer der US-amerikanischen Kriegszwecke.
Mehr als 90 Prozent des weltweit produzierten Opiums, Rohstoff für Morphium und Heroin, kommen aus Afghanistan. Anno 2008 waren es 8300 Tonnen. 95 Prozent des afghanischen Opiums werden weiterverarbeitet und ergeben 80 Tonnen hochreines Heroin, berichten die Vereinten Nationen. Fast die Hälfte, mehr als 35 Tonnen, werden laut übereinstimmenden Angaben der UNO und der russischen Drogenpolizei nach Rußland geschmuggelt; ein erheblicher Teil davon wandert vermutlich weiter in die urbanen Zentren Chinas.
Allein nach Rußland gelangt demnach fast dreimal so viel Heroin wie in die USA, nach Kanada und Westeuropa zusammen. Victor Ivanov, Leiter des Föderalen Dienstes für Drogenkontrolle, erklärte im NATO-Rußland-Rat am 23. März in Brüssel, der Drogenzustrom aus Afghanistan sprenge alle Vorstellungen. Eine Million Menschen seien seit 2001, dem Jahr des Kriegsbeginns und der Besetzung Afghanistans durch US- und NATO-Truppen, schon an den Opiaten vom Hindukusch gestorben. Ivanov: »Fast jede Familie ist inzwischen direkt oder indirekt davon betroffen.« 21 Prozent des weltweit verschobenen Heroins aus Afghanistan seien 2008 auf dem russischen Schwarzmarkt abgesetzt worden. Trotz aller Abwehrmaßnahmen Moskaus sei die Tendenz steigend.
Legt man die konkreten Angaben der UNO zugrunde (Weltproduktion: 86 Tonnen Heroin im Jahr) und glaubt man Ivanovs Darstellung, so hätten russische Konsumenten Suchtmittel aus 18 Tonnen Heroin aufgenommen, und weitere 17 Tonnen des nach Rußland geschleusten reinen Heroins wären von dort nach China weitergeschmuggelt worden. Das erhellt, warum Moskau und Beijing vor drei Jahren eine enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kampf gegen die Drogenflut verabredet haben. Der Heroinhandel bedroht die Volksgesundheit, die wirtschaftliche und die innenpolitische Stabilität beider Staaten.
Der Leiter des russischen Gesundheitsdienstes, Gennadij Onischtschenko, teilte kürzlich in Moskau mit (nicht so drastisch wie Ivanov, aber detaillierter und um so glaubwürdiger), an Überdosen Heroin stürben jährlich zwischen 30.000 und 40.000 junge Russen und weitere 70.000 an Begleitkrankheiten des Drogenmißbrauchs (AIDS, Sepsis und so weiter). Zwei bis zweieinhalb Millionen Jugendliche im Alter zwischen 18 und 39 Jahren seien drogenabhängig, 550.000 davon offiziell registriert. Jahr für Jahr würden 75.000 weitere junge Menschen süchtig, überproportional viele Studenten und Jungakademiker.
Suchtkranke Russen geben jährlich umgerechnet 17 Milliarden US-Dollar für Heroinbeschaffung aus, berichtet die Nachrichtenagentur RIA Novosty. Die Polizei habe allein im März dieses Jahres mehr als 200 Drogenküchen ausgehoben, in denen Heroin für den Straßenverkauf verschnitten wurde.
Das für den russischen Markt bestimmte Heroin aus Afghanistan wird über Tadschikistan oder Usbekistan nach Rußland geschmuggelt. Es wäre naiv anzunehmen, daß die USA, deren Geheimdienste in beiden Ländern stark präsent sind, davon nichts wüßten und keinen Einfluß darauf hätten.
Ivanov schlug dem NATO-Rußland-Rat vor, mindestens 25 Prozent der afghanischen Mohnanbaufläche zerstören zu lassen. Die NATO lehnte jedoch ab. NATO-Sprecher James Appathurai äußerte vor Journalisten zynisch: »Wir können nicht die einzige Einkommensquelle für Menschen versiegeln, die im zweitärmsten Land der Welt leben, wenn wir ihnen keine Alternative zu bieten haben.« Als ob die Besatzer aus sozialen Motiven die Opiumproduktion schützten.
Vor dem Krieg, unter dem Taliban-Regime, war Mohnanbau in Afghanistan streng kontrolliert, Mohn war nur als Lebensmittel erlaubt. Auf Drogenherstellung und -vertrieb stand die Todesstrafe. Im vorigen Jahr wurde auf dem afghanischen Markt Mohn für 3,4 Milliarden US-Dollar umgeschlagen (Quelle: Julien Mercille, Universität Dublin). 21 Prozent davon verblieben den Bauern, 75 Prozent strichen die korrupten Verbündeten der USA und der NATO ein: Regierungsbeamte, lokale Polizei, regionale Händler und Spediteure. Vier Prozent fielen für die Taliban ab, geduldet von der NATO. Denn der Gegner muß erhalten werden – im Interesse ständiger US-Präsenz. Mache sich jeder seinen Reim drauf.
Rußland beruft sich vergeblich auf UN-Beschlüsse, die alle Mitgliedsstaaten verpflichten, gegen den Drogenschwarzmarkt vorzugehen. Kein Wunder, daß Ivanov mit NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel zusammenkrachte, als sich die NATO schlankweg weigerte, etwas gegen den afghanischen Mohnanbau zu unternehmen.
Wir haben es mit der modernen Variante eines »Opiumkriegs« zu tun, der mit der gleichen Zielsetzung geführt wird, welche die Briten im Ersten und im Zweiten Opiumkrieg (1839–1842 und 1856–1860) gegen das Kaiserreich China der Qing-Dynastie verfolgten. Das dem Reich der Mitte aufgezwungene Opium bewirkte die völlige Zersetzung der chinesischen Gesellschaft und jene innenpolitische Instabilität, die 1900 den sogenannten Boxer-Aufstand auslöste – den erwünschten Vorwand zum europäischen Einmarsch.
Nun könnte die UNO ihr ISAF-Mandat, mit dem sie erst nachträglich die NATO-Invasion in Afghanistan legitimierte, um den Kampf gegen den Mohnanbau erweitern und in echter Wiederaufbauhilfe alternative Anpflanzungen fördern. Dann stünden die Besatzer in der Pflicht, die Opiumproduktion abzustellen. Ein solcher UN-Beschluß kam bisher nicht zustande.
Opium und das daraus gewonnene Heroin schädigen den Menschen bis in seine genetischen Grundlagen – wie damals im chinesischen Kaiserreich so heute in Rußland, in der Volksrepublik China und ihren Nachbarländern. Drogen sind offenbar zur Giftwaffe in der globalen Auseinandersetzung mit den aufstrebenden Staaten des Ostens geworden. Ein wesentlicher Aspekt des Afghanistankriegs, bisher öffentlich kaum diskutiert.