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Schleichende Revisionen  (Kurt Pätzold)

Wenn deutsche Antifaschisten von Geschichtsrevision sprechen und ihr entgegengetreten, nehmen sie zumeist auf jene lärmende Form Bezug, die Nazis auf Straßen deutscher Städte bekunden. Dahinter rangieren Fernsehleute, Drehbuchautoren und Dramaturgen, die den Zweiten Weltkrieg bebildern und alle Fragen nach dem Woher, Warum und Wozu auslassen. Aber der Prozeß der Revisionen, die an einem der Wahrheit verpflichteten Geschichtsbild vorgenommen werden, ist inzwischen weiter vorangekommen als vielfach angenommen. Deshalb hier ein Wort zu seinen leiseren Formen. Zu ihnen gehört das Auswechseln von Begriffen, von denen die einen, bisher gebräuchlichen, stillschweigend aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwinden, während andere, bisher nur in Randgruppen benutzte, in die Mitte der Gesellschaft rücken und auch von Autoren gebraucht werden, die sich selbst im linken politischen Spektrum verorten.

Während es Grund gab, das Scheitern der Nazis in Dresden am 65. Jahrestag der Zerstörung der Stadt durch die Luftangriffe anglo-amerikanischer Verbände zu feiern, erschien in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland ein Artikel unter der Überschrift »Armageddon über Florenz«, die das Ereignis mit einem Bild aus der christlichen Mythologie vernebelte. Sein Autor Robert Allertz erklärte den Angriff zu einem politisch kalkulierten Massenmord. Die Formulierung läßt, das mag nicht gewollt sein, keinen Abstand mehr zu den Nazi-Demonstranten, die mit ihren Plakaten in Dresden die Besatzungen der anglo-amerikanischen Bomberverbände zu Massenmördern stempeln wollten. Der Hinweis, daß dem verheerenden Angriff deutsche Verbrechen vorausgegangen waren, hebt diese Nähe nicht auf, zumal im gleichen Schreibzug die konkreten geschichtlichen Zusammenhänge verfälscht werden. Der Angriff habe sich gegen die »Kulturmetropole« gerichtet, die »lediglich als temporärer Verkehrsknotenpunkt für die zusammenbrechende Ostfront« zu werten gewesen sei. Was nur so gelesen werden kann: Sollten die sowjetischen Truppen doch sehen, wie sie mit den Hauptkräften der deutschen Wehrmacht an der Oder fertig würden. Ja, es sei nicht im geringsten darum gegangen, deren Lage und Aufgabe zu erleichtern und den Krieg zu einem Ende zu bringen. Es sollten, sagt der Autor, einfach »möglichst viele Menschen« umgebracht, dabei die eigenen Gewaltmittel präsentiert und die Deutschen bestraft werden. Die hätten solches zwar verdient, doch müsse die Frage nach der Verhältnismäßigkeit gestellt werden. Wie viele Dresdner der Autor als angemessenes Strafmaß gelten läßt, verrät er nicht.

Die Quelle, auf die sich der Publizist stützt, ist ein 2009 auch in einer deutschsprachigen Ausgabe erschienenes Buch des britischen Historikers Norman Davies, den er als verläßlichen Autor zitiert, während er über die Kommentare zu dessen Werk schweigt. Einen schrieb der durch militärhistorische Studien hervorgetretene Johannes Hürter, ein im bundesrepublikanischen Geschichtsestablishment fest beheimateter Fachmann. Die Kernthese des Buches beschreibt der Rezensent so: »Der Krieg wurde ganz überwiegend im Osten geführt, wo sich nicht ›Gut‹ und ›Böse‹, sondern zwei kriminelle Ideologien gegenüberstanden, eine ›tödliche Fehde zwischen Verbrechern‹« ausgetragen wurde (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 1. 10). In einer anderen Besprechung war vordem zu lesen gewesen, das »Kernproblem« bei der Beurteilung des Krieges sehe Davies »in den ungewöhnlich weit verbreitet gewesenen Verbrechen«, von denen weiter gesagt wird, »daß die Deutschen bereiter gewesen seien als die Russen, die eigenen einzugestehen und zu sühnen« (Die Berliner Literaturkritik, 30. 11. 09).

So schleicht 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, befördert von keineswegs verdächtigen Verlagen – Davies’ Buch erschien bei Droemer und Knaur – bis in ebenso unverdächtige Redaktionen hierzulande, dessen neue Betrachtung voran. Sie ist seit Jahren angebahnt durch die Fokussierung der Blicke auf die Deutschen als Opfer. Im ersten Schritt noch als die Opfer eines Krieges, an dessen Zustandekommen sie einen mehr oder weniger – meist weniger – großen Anteil besaßen. Im zweiten erscheinen sie nun als Opfer von Verbrechen »der Anderen«. Dahinter verschwinden die Fragen nach den Urhebern des Krieges, nach den Interessen, die sie leiteten, nach den Zielen, die sie verfolgten, und nach den Menschen, die ihnen die Wege dahin verlegten. Nach alledem soll nicht mehr gefragt werden, da Deutschland doch wieder für sich in Anspruch nimmt, gerechte Angriffskriege führen zu dürfen.