Was wäre Kisch ohne Café? »Ich bin ein Lokalpatriot, ein Patriot aller Lokale auf dieser Erde«, gestand er seinem jüngeren tschechischen Berufskollegen Norbert Fryd am Ende seiner Tage. Fryd hatte Kisch nach dessen Heimkehr aus dem mexikanischen Exil ins geliebte Prag um ein Interview gebeten. Fryd seinerseits war dem KZ Dachau entronnen. Kisch bestellte ihn ins alte Café Tumovka in der Lazarusgasse: »Dort habe ich immer verkehrt.«
Von Anbeginn seines Berufslebens gehörten Caféhäuser zu Kischs Alltag. Er war ein begnadeter Kaffeegenießer, aber es war nicht so sehr der schwarze Trank, der ihn ins Café zog, es war die Geselligkeit. Kisch liebte geistvolle, witzige Gespräche mit Freunden, Bekannten und Kollegen, leidenschaftliche Debatten über journalistische und schriftstellerische Arbeit, Alltag und Politik. Auch Klatsch und Tratsch gehörten an den Caféhaustisch. Kisch war berühmt und beliebt als unerschöpflicher Geschichten- und Anekdotenerzähler.
In einem Café hatte seine Karriere begonnen. Er war gerade 21, seit einigen Wochen beim Prager Tagblatt angestellt, und hatte sich inzwischen bei der ebenfalls deutschsprachigen traditionsreichen Tageszeitung Bohemia beworben. Da saß er eines Nachmittags im Café Central, ein alter Redakteur klopfte ihm auf die Schulter und teilte ihm mit, in der Redaktion sei eine Stelle frei. Kischs späterer Freund Theodor Balk, ein Journalist und Schriftsteller aus Jugoslawien, erzählte, wie sich das abgespielt hat. »Ich nehme an«, antwortete Kisch, ohne zu zögern. »Nicht so stürmisch, junger Mann«, versuchte ihn der Redakteur mit Einwänden zu stoppen. Ob er denn wisse, daß es sich um die Stelle »unseres Spezialisten in Mordfällen« handele, um die des Lokalreporters, Herrn Melzer. –In jener Zeit stand der Lokalreporter im Verrufe wie das Schindanger-Gewerbe. Kisch aber ließ sich nicht schrecken. »Ja, ich weiß das. Ich komme noch heute in die Redaktion, um mich vorzustellen.« Das war im Jahre 1906.
Nun war er zuständig fürs Lokale und zog durch Cafés und Destillen. An diesen stimmungsvollen Orten befanden sich Nachrichtenbörsen. Da tauschten die Lokalreporter, vornehmlich jene von den tschechischen Blättern, zu denen sich Kisch gesellte, Neuigkeiten aus: ein Mordfall hier, ein Einbruch dort. Schließlich scheute Kisch sich auch nicht, selbst übelbeleumdete Spelunken aufzusuchen, um Stoff zu finden für Berichte, Reportagen, letztlich auch für ein Theaterstück und seinen einzigen Roman »Der Mädchenhirt« und für die Textsammlungen in seinen Büchern mit Lokalreportagen, dessen erstes den Titel trägt »Aus Prager Gassen und Nächten«.
Nachdem das im Jahre 1912 erschienen war, setzte Kisch zwecks public relations den fiktiven Eleven Pepik Schnelläufer in die Spur, um den Meister zu interviewen. Und wo findet der ihn? Lesen wir nach: »Ich habe sehr lange suchen müssen, bis ich den Herrn Autor Egon Erwin Kisch gefunden habe, denn er war nicht in dem Caféhause ›U mysí dírky‹ in der Fleischhackergasse, trotzdem man mir gesagt hatte, er wird dort sein. Auch war er nicht in dem Café ›U staré panny‹ in der Michaelgasse, wo er immer mit der Peptschka Rozkroutílová sehr gerne tanzen soll. Ich habe ihn erst in dem Café ›U treck hvezdícek‹ gefunden ... Ich habe den Herrn Kellner gefragt, wo ist der Herr Autor Kisch, und der Kellner hat gerufen: ›Egonek, da sucht dich jemand.‹« Hier haben wir es mit einer winzigen – aber sehr typischen – autobiographischen Skizze des Mannes zu tun, der sich von Pepik Schnelläufer im Café »Zu den drei Sternchen« finden ließ.
Alle, die sich in späteren Jahren an Kischs Prager Zeit erinnerten, kamen unweigerlich auf Begegnungen in Caféhäusern zu sprechen. Immer wieder werden das »Continental« auf dem Graben, der Flaniermeile der Deutschen zwischen Pulverturm und Wenzelsplatz; das »Unionka« in der Narodni trida; das zweisprachige Literatencafé »Central« und das »Edisonka« in der kurzen Gasse Na mustku am Ende des Wenzelplatzes genannt. Es waren Institutionen. Das »Edisonka« besuchte Kisch zusammen mit dem berühmten Erfinder Thomas Alva Edison. Als der im September 1911 auf seiner Europareise in Prag Station machte, gewährte er Kisch ein Interview. Und der junge Reporter – nunmehr schon nicht mehr im Verrufe »unseres Spezialisten in Mordfällen« – machte auf ihn einen derartigen Eindruck, daß er ihm ein silbernes Zigarettenetui mit Widmung schenkte und sich in das nach ihm benannte Café begleiten ließ.
In diesen Caféhäusern kehrte Kisch vor dem Ersten Weltkrieg und später noch bis zum Überfall der Deutschen am 15. März 1939 ein. Hier war er regelmäßig anzutreffen, auch in den Zeiten, als er seinen Wohnsitz in Berlin hatte oder in Versailles.
Das »Edisonka«, dem »Romanischen Café« an der Spree hinsichtlich der Atmosphäre sehr ähnlich, war in der Erinnerung des Schriftstellers Jan Koplowitz »das Dorado der echten und der verkannten Genies«. Im »Unionka« traf sich Kisch mit namhaften tschechischen Literaten und Journalisten wie Karel Konrad oder S. K. Neumann, der nach dem Ersten Weltkrieg als erster eine bedeutende Arbeit von Franz Kafka in tschechischer Übersetzung publiziert hatte. Das »Conti« – dort war sprichwörtlich »Der Tisch von Kisch« –, ursprünglich den Prager Deutschen vorbehalten, wurde Treffpunkt der politischen Emigranten aus Deutschland. Hierher kamen die Brüder Wieland Herzfelde und John Heartfield, F. C. Weiskopf, Alex Wedding, Willi Bredel, Fritz Erpenbeck, Oskar Maria Graf sowie auch die Kollegen aus der Redaktion der legendären Arbeiter-Illustrierten Zeitung (AIZ) um Hermann Leupold, die nach der Flucht aus Deutschland bis 1938 in Prag herausgebracht wurde.
Vor dem Ersten Weltkrieg hatte der lebenslustige Egonek auch einen Stammtisch im »Montmartre«. Nach Redaktionsschluß am späten Abend eilte er in das berühmte Prager Bohèmelokal. Da warteten Genossen im Geiste auf ihn, Nachtschwärmer wie er, von denen mancher später zu literarischem Ruhm kommen sollte. Der Berühmteste unter ihnen war Jaroslav Hasek, Kischs guter Freund. Im »Montmartre« war Egonek geradezu eine Sensation, wenn er mit der schönen Chansonette Emca Revoluce, der Königin des Prager Nachtlebens, »slapák« oder andere Modetänze der Zeit tanzte.
Im Jahre 1913 ging Kisch erstmals nach Berlin, weil seiner Feder in Prag das Papier zu klein geriet. Natürlich zog es ihn auch an der Spree ins Café. Leonhard Frank erinnerte sich an die erste Begegnung mit seinem Freund Kisch, »als er mit seinem neu erschienenen Roman ›Der Mädchenhirt‹ ins ›Café des Westens‹ einzog, umgeben von seinen Bewunderern und einer erklecklichen Anzahl hübscher junger Mädchen (siehe Romantitel). Die Kampfgespräche über Literatur begannen sofort. Sie dauerten jeden Tag bis fünf Uhr früh. Und da wir spätestens bis vier Uhr nachmittags wieder im Café sein mußten und, wie ich mich mit Bestimmtheit erinnere, doch auch irgendwann geschlafen haben, frage ich mich heute vergebens, wann wir eigentlich unsere Bücher schrieben.«
Als Kisch dann nach dem Ersten Weltkrieg erneut nach Berlin übersiedelte, wo er dann rund ein Jahrzehnt polizeilich gemeldet war, führte ihn einer der ersten Wege in das »Romanische Café« an der Tauentzienstraße, das dem legendären »Café des Westens« nachgefolgt war. Auch hier hatte er bald seinen Stammtisch. Im »Romanischen« machte er eine Bekanntschaft seines Lebens: Jarmila, eine junge Pragerin, saß bereits dort, als er im November des Jahres 1921 eintraf. Es war Sympathie auf den ersten Blick.
Jarmila Haasová geborene Ambrožová wurde die von Kisch autorisierte Übersetzerin alle seiner Werke ins Tschechische. Sie war seine Interessenvertreterin in Prag – und auch seine große Liebe. In Egoneks Geburtshaus »Zu den zwei goldenen Bären« bei Mutter Kisch ging sie fortan ein und aus. Die Freundschaft und Vertrautheit zwischen Kisch und Jarmila hielt bis zum Lebensende. Wenn Kisch im »Romanischen« war, mangelte es nicht an geistreichen Gesprächen, da blitzte es nur so von Witzen, Knüttelversen und Ideen, erinnerte sich Jarmila. Und wenn er notgedrungen einmal »müßig« sitzen mußte, »dann zeichnete er. Er zeichnete auf den Kaffeehaustisch, auf Zigaretten- oder Streichholzschachteln, er zeichnete auf Zeitungen, Zeitschriften, er zeichnete auf jedes leere Stück Papier. Die Kellner nahmen es nicht übel, im Gegenteil, sie machten mit diesen Skizzen gute Geschäfte.«
Als die Literarische Welt von Willy Haas, der im Frühjahr 1921 mit Jarmila, seiner ersten Ehefrau, aus Prag nach Berlin gekommen war, im Jahre 1927 eine der berühmten Rundfragen unter Prominenten veranstaltete und wissen wollte: »Wie soll Ihr Nekrolog aussehen?«, da beendete der Caféhausgänger Kisch seine humorige Antwort mit dem frommen Wunsche: »Heute, drei Uhr nachmittags, während die Leiche des Stammgastes, Herrn Kischs, in die Erde gesenkt wird, tritt im ›Romanischen Café‹ eine Arbeitsruhe von drei Minuten ein, innerhalb welcher Zeit nicht serviert wird.«
In Kischs Leben gab es eine besonders dramatische Zeit, in der das »Café Central« in Wien die zentrale Rolle spielte. Es war die Zeit um die Novemberrevolution des Jahres 1918. In der Endzeit der Donaumonarchie, seit Anfang Mai 1917, diente er im k.u.k. Kriegspressequartier in Wien. Ende des Jahres gehörte er zu einem illegalen dreiköpfigen Komitee, das einen illegalen Arbeiter- und Soldatenrat ins Leben rief. Am 1. November 1918 wurde Kisch auf dem Deutschmeisterplatz von hunderten revolutionären Soldaten zum Kommandeur der Roten Garde gewählt. Doch durch Intrigen von Systemrettern wurde er schon bald in den Hintergrund gedrängt, und die bürgerliche Presse inszenierte eine Rufmordkampagne ohnegleichen gegen Kisch.
»Ich verkehre mit Anton Kuh und einigen Literaten im Café Central, wenn ich abends aus dem Büro gehe«, berichtet er der lieben Mama am 15. Mai 1917. Zu den Literaten gehörte Franz Werfel. Während der Novemberereignisse waren Kisch und Werfel einander freundschaftlich verbunden. Am 25. Mai schrieb er der Mutter, die von ihm Neues über Bekannte erfahren wollte, daß er niemanden getroffen habe, »weil ich ja fast nie aus meinem Bureau herauskomme und nur in der Nacht im Kollegenkreise im Café Central sitze«. Zwei Jahre später ist dieses Caféhaus nahezu Kischs zweites Zuhause. Er hat es zu seiner Postadresse gemacht. »Schreib mir ins Café Central, Herrengasse«, bittet er die Mutter am 1. August 1919. »Ich lasse dann mehr von mir hören.«
Die Zahl der Cafés in verschiedenen Ländern, die in den Texten von Kisch und in den Erinnerungen berühmter Zeitgefährten wie Zeitgenossen genannt werden, geht in die Dutzende. Der größte Teil hat inzwischen die Gestalt von Traumcafés angenommen. Verschwundene Stätten. Vorbei die Zeit, als man, wie einst Kisch, auf die Frage nach Zentren geistig-geselligen Lebens antworten konnte: »Ja, wir in Europa können mit Leichtigkeit diese Frage beantworten, denn wir haben das vielgeliebte Kaffeehaus, ohne das man meiner Meinung nach nicht leben kann. Sitzt man in einer deutschen Stadt, so braucht man bloß an ein Telefon zu gehen und einige Freunde anzurufen, mit denen man sich dann im Kaffeehaus verabredet, und schon ist der Kreis, das heißt zu einer geistigen oder geselligen Unterhaltung, geschlossen. Das Kaffeehaus erspart uns sozusagen eine Wohnung, die man nicht unbedingt haben muß, wenn es ein Kaffeehaus gibt.«
Und wenn er, wie in den Jahren des Exils, in Versailles oder Mexico City, dem Kaffeehaus entsagen mußte, dann servierte zu den geselligen Treffen, Gesprächen und Diskussionen im bescheidenen Quartier Kischs Frau Gisl einen Kaffee, von dem Freunde und Zeitgenossen noch nach Jahrzehnten schwärmten. Übrigens: Wo waren sich die Wienerin aus Brigittenau und Egonek nähergekommen?
Im Caféhaus.
Egon Erwin Kisch wurde vor 125 Jahren, am 29. April 1885, in Prag geboren, Klaus Haupt ist Autor der Biographie »Der ›rasende Reporter‹ aus dem Haus ›Zu den zwei goldenen Bären‹«.
www.egon-erwin-kisch.de