Viele hoffen auf einen Erfolg der neuesten »humanitären Intervention« der NATO und einen Machtwechsel in Libyen. Sie übersehen, was für die Bevölkerung dieses Landes auf dem Spiel steht. Bisher hatte sie den höchsten Lebensstandard in Afrika. Das »Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen« (UNDP) bescheinigte dem Land beste Aussichten, die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen bis 2015 zu erreichen. Die NATO dürfte diese Hoffnung bereits zerstört haben. Dem Land droht ein Absturz, wie ihn der Irak erlitten hat.
In den letzten Jahren hatte man wenig über Libyen gehört, das Verhältnis zum Westen hatte sich entspannt, europäische Regierungschefs trafen sich nun gerne und häufig mit ihrem libyschen Kollegen Muammar al-Gaddafi, die Geschäfte blühten. Im Zuge der Kriegsvorbereitung wurde das Land plötzlich zur übelsten Diktatur. Auch viele Kriegsgegner übernehmen diese Charakterisierung und wünschen den Sturz des »Tyrannen«.
Doch läßt sich das libysche Gesellschaftssystem tatsächlich auf »Revolutionsführer« Gaddafi reduzieren? Und sind die Verhältnisse in Libyen wirklich schlimmer als in den meisten anderen Ländern?
Für Richard Falk, den UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in Palästina, ist der »Grad der Unterdrückung« in Libyen nicht »durchdringender und schwerer« als in anderen autoritär regierten Ländern. Auch nach den Länderberichten von Amnesty International ist die Menschenrechtssituation in Libyen ähnlich der in vielen anderen Staaten. Bei arabischen Verbündeten in der NATO-Kriegsallianz, zum Beispiel Saudi-Arabien, ist sie wesentlich schlechter. Der UN-Menschenrechtsrat hat Libyen im Bericht über die jüngste »allgemeine regelmäßige Überprüfung« Libyens, die Ende letzten Jahres stattfand, für seine Fortschritte gelobt. Etliche Mitgliedsländer des Menschenrechtsrats, darunter Venezuela, Kuba, Australien und Kanada, hoben in ihren Erklärungen einzelne positive Veränderungen noch besonders hervor.
Für westliche Medien ist dieser Bericht, dessen abschließende Diskussion nun kurzfristig von März auf Juni verschoben wurde, ein Skandal, weil er nicht einseitig betrachtet, wie die bürgerlichen Freiheiten verwirklicht sind, sondern auch großes Gewicht auf die Verwirklichung sozialer Rechte legt, also die Befriedigung solcher grundlegender Bedürfnisse wie ausreichendes Einkommen, Nahrung, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Bildung.
Auch in dieser Hinsicht ist die Lage in Libyen nicht rundum zufriedenstellend; zu beanstanden sind vor allem Korruption und hohe Jugendarbeitslosigkeit. Im Vergleich mit anderen Ländern stehen die Libyer aber recht gut da und haben durch die NATO-Intervention viel zu verlieren. Der relativ hohe Lebensstandard erklärt auch, warum Gaddafi erheblichen Rückhalt im Land hat – besonders, so der Libyen-Experte Andreas Dittmann im Deutschland-Radio, unter den Älteren, die sich noch an die früheren Zeiten erinnern.
Als 1969 der von den USA und Großbritannien eingesetzte König Idris gestürzt wurde, war Libyen trotz der 1961 angelaufenen Erdölexporte noch ein armes, vom Kolonialismus schwer gezeichnetes, unterentwickeltes Land. Die Nationalisierung der Ölproduktion in mehreren Schritten ermöglichte es, die wirtschaftliche Entwicklung und die Verbesserung der Lebensbedingungen zu beschleunigen. Mit dem drastischen Einbruch des Ölpreises zwischen 1985 und 2001 geriet diese Entwicklung ins Stocken. Die 1993 verhängten UN-Sanktionen verschärften die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank von 6.600 US-Dollar pro Kopf im Jahr 1990 auf 3.600 US-Dollar 2002 und stieg erst nach der Aufhebung der UN-Sanktionen im September 2003 wieder deutlich. 2008 erreichte das (in Kaufkraftparität ausgedrückte) Bruttoinlandsprodukt nach UN-amtlichen Angaben 16.200 US-Dollar pro Kopf. Zum Vergleich: Das BIP Ägyptens betrug im selben Jahr 5.900, das Algeriens und Tunesiens etwa 8.000 Dollar. Saudi Arabien kam auf 24.000, Kuwait auf 51.500 und Katar auf 72.000 Dollar.
Die Wirtschaftssanktionen hatten eine Modernisierung der libyschen Infrastruktur blockiert. Die Pläne, sich aus einseitiger Abhängigkeit vom Erdöl zu befreien und auch andere Industriezweige zu entwickeln, kamen zum Erliegen. Der wirtschaftliche Niedergang bremste auch die Entwicklung in sozialen Bereichen. Beim Human Development Index (HDI), der das Entwicklungs- und Lebensniveau eines Landes anhand von Basisindikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Alphabetisierung zu messen sucht, sackte Libyen Mitte der 1990er Jahre vom 67. auf den 73. Platz ab.
Als der Ölpreis wieder stieg und dem Staat mehr Geld zufloß, verbesserten sich auch die Lebensbedingungen wieder. Das UNDP stufte Libyen inzwischen auf HDI-Rang 53 ein, vor allen anderen afrikanischen Ländern und auch vor dem reicheren, vom Westen gestützten Saudi-Arabien. Mit »Regierungs-Subventionen in Gesundheit, Landwirtschaft und Nahrungsimport« wurde bei »gleichzeitiger Steigerung der Haushaltseinkommen« frühere »extreme Armut« praktisch beseitigt, wie das UN-Entwicklungsprogramm jüngst feststellte.
Die Lebenserwartung stieg auf 74,5 Jahre und ist damit jetzt die höchste in Afrika (auch um fast eineinhalb Jahre höher als in Saudi Arabien, nachdem es 1980 noch genau umgekehrt war). Die Kindersterblichkeit sank auf 17 Tote pro 1000 Geburten und ist damit nicht halb so hoch wie in Algerien (41) und deutlich geringer als in Saudi Arabien (21). Libyen liegt auch bei der Versorgung von Schwangeren und der Reduzierung der Müttersterblichkeit vorn.
Das UN-Entwicklungsprogramm sieht zwar noch ein Problem in mangelnden personellen Ressourcen im Gesundheitswesen, aber »die graduelle Reintegration des Landes in die internationale Wirtschaft [nach Aufhebung der Sanktionen; J.G.]« habe »zu einer besseren Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung geführt. Die Regierung biete allen Bürgern eine unentgeltliche Gesundheitsversorgung und erreiche eine hohe Abdeckung in den meisten Basis-Gesundheitsbereichen.«
Die Analphabeten-Rate sank in Libyen auf 11,6 Prozent und liegt deutlich unter der von Ägypten (33,6 Prozent), Algerien (27,4 Prozent), Tunesien (22 Prozent) und Saudi-Arabien (14,5 Prozent).
Der Bildungsindex, in den neben der Alphabetisierung auch die Anzahl der Oberschüler und Studenten eingeht, liegt sogar über dem der kleinen superreichen Scheichtümer Kuwait und Katar, die man eigentlich kaum mit den arabischen Flächenstaaten vergleichen kann.
Das UN-Entwicklungsprogramm bescheinigt Libyen »auch einen signifikanten Fortschritt in der Gleichstellung der Geschlechter«, besonders im Bereich Bildung und Gesundheit, noch sehr unzureichend dagegen in Politik und Wirtschaft. Insgesamt liegt Libyen im »Index für geschlechtsspezifische Ungleichheit« auf Rang 52 und damit wiederum weit vor Ägypten (Rang 108), Algerien (Rang 70), Tunesien (Rang 56), Saudi-Arabien (Rang 128) und Katar (Rang 94). Selbst Argentinien (Rang 60) steht in dieser Hinsicht schlechter da.
Angesichts dieser Erfolge kann die positive Einschätzung der Entwicklung in Libyen im Menschenrechtsrat kaum überraschen.
Auch der Irak hatte in den 1980er Jahren einen relativ hohen Lebensstandard, höher noch als der Libyens. Er litt bereits schwer unter dem UN-Embargo. Die »Befreiung« von Saddam Hussein stürzte die irakische Gesellschaft vollends in den Abgrund. Der Zerfall schreitet noch immer fort.
Millionen Iraker hungern, und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus. Die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner lebt nun in äußerster Armut. 55 Prozent haben kein sauberes Trinkwasser, 80 Prozent sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Strom gibt es nur stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme liegen am Boden. Die Kindersterblichkeit würde bei Fortsetzung der Entwicklung in den 1980er Jahren heute deutlich unter 20 pro 1000 Geburten liegen. Tatsächlich stieg sie gemäß einer Studie der Hilfsorganisation »Save the Children« bis 2005 auf 125. 1987 hatte die UNESCO den Irak für sein Bildungswesen ausgezeichnet, der Analphabetismus war fast beseitigt. Nun stieg die Analphabetenrate bereits auf mehr als 25 Prozent, in manchen Gegenden beträgt sie bei Frauen schon 40 bis 50 Prozent. Generell haben die irakischen Frauen ihre einst recht gute Stellung in der Gesellschaft verloren. Gemäß UNDP-Index fiel sie auf das Niveau von Saudi-Arabien.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß ein von den NATO-Staaten durchgesetzter »Regime Change« in Libyen besser für das Land ausgehen würde. Schließlich sind die angreifenden Mächte nahezu gleich, und auch die Führung der Aufständischen ähnelt in vielem den jungen Irakern, die die USA im Irak an die Regierung brachten: radikale islamische Organisationen und pro-westliche, neoliberale Verfechter einer vollständigen Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft des Landes. Noch verheerender wäre es, wenn es zu einem langen Bürgerkrieg käme und das Land geteilt würde.