In Kürze soll ein Weißbuch mit dem Titel »Ein vergessener Skandal. Die Bundesrepublik und der ostdeutsche Unrechtsstaat« veröffentlicht werden. Noch ist unklar, wer es initiiert haben soll: erbitterte Mitglieder der »Vereinigung der Opfer des Stalinismus«, die mit der Höhe der Entschädigung unzufrieden sind und die angebliche Doppelmoral der westdeutschen Politik gegenüber der DDR anprangern wollen? Oder einige bewährte DDR-Experten, die ihren Auftrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mißverstanden haben und über das Ziel hinausschießen? Oder ehemalige ostdeutsche Bürgerrechtler, die nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung nicht mit einträglichen politischen Ämtern belohnt, sondern aufs politische Abschiebegleis geschoben wurden? Nicht ausgeschlossen wird, daß der unermüdliche Hubertus Knabe zu den Initiatoren des Enthüllungsbuches gehört. Immerhin hatte er in seinem berühmten Werk »Weißwäscher roter Regimes vor allem am Beispiel der bundesdeutschen Medien die »diffizile Verstrickung der westdeutschen Gesellschaft mit der SED-Diktatur« beleuchtet.
Wie dem auch sei, in dem Weißbuch sollen frühere und jetzige Spitzenpolitiker und Wirtschaftskapitäne der Bundesrepublik beschuldigt werden, in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts enge Kontakte mit hohen und höchsten Repräsentanten der SED-Diktatur gepflegt, den DDR-Unrechtsstaat hofiert und dazu beigetragen zu haben, ihn national und international aufzuwerten. Erst nach dem Untergang des ostdeutschen Staates hätten sie den Mut zur Wahrheit gefunden und ihn verspätet endlich »Unrechtsstaat« genannt. Dieses empörende und skandalöse Verhalten soll mit einer ausführlichen Dokumentation nachgewiesen werden, aus der bisher nur einige Details bekannt geworden seien.
Als »Kardinalfehler« werde der »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« vom 21. Dezember 1972 angeführt, in dem sich die »Hohen Vertragschließenden Seiten« völkerrechtlich verpflichteten, »normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung (zu entwickeln),... die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft ... (zu achten) ... und von dem Grundsatz aus(zugehen), daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt.« Statt den diktatorischen Charakter des SED-Staates wenigstens ansatzweise anzuprangern, habe die Bundesregierung willfährig dem Passus zugestimmt, daß die Bundesrepublik und die DDR »die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten (respektieren)«. Diese Fehler der Bundesrepublik seien unverzeihlich, sie habe ihren berechtigten Alleinvertretungsanspruch zu Grabe getragen und der DDR den Weg in die UNO geöffnet. Dort hätten die Vertreter des deutschen Rechtstaates nicht einmal verhindert, daß der Unrechtsstaat 1980/81 als nichtständiges Mitglied dem Sicherheitsrat angehörte und 1987 gar den Präsidenten der Generalversammlung stellte.
Als ein Höhepunkt des Kapitulantentums und der Aufwertung des DDR-Unrechtsstaates soll in dem Weißbuch der offizielle Besuch des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der Bundesrepublik im September 1987 gewertet werden. Unverständlich sei es bis heute, daß der Ostberliner Diktator mit allen protokollarischen Ehren, die eigentlich nur Oberhäuptern eines souveränen Staates zustehen, empfangen wurde: roter Teppich, Staatsflaggen und -hymnen der BRD und der DDR, Ehrenformation des Wachbataillons Bonn der Bundeswehr, angetreten mit präsentiertem Gewehr. Man habe sich einfach darüber hinweggesetzt, daß in der BRD in den vorangegangenen Jahrzehnten das Abspielen der Hymne »Auferstanden aus Ruinen« bundespolizeilich untersagt und die DDR-Staatsflagge gewaltsam vom Mast geholt worden war. Den Vogel habe Franz Josef Strauß abgeschossen, der die meisten Kräder, 15 an der Zahl, zur Begleitung des Wagens Honeckers aufbot und nicht nur auf dem Flughafen und vor der Residenz des Gastes, sondern entlang aller Straßen zur bayrischen Staatskanzlei das DDR-Banner hissen ließ.
Wenig anders hätten sich die Ministerpräsidenten der anderen Länder verhalten, die sich darum gerissen hätten, daß ihr Bundesland in das Besuchsprogramm aufgenommen wurde. Nur zweien sei diese zweifelhafte Ehre zuteil geworden: neben Strauß bezeichnenderweise dem saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (SPD). Unfaßlich bis heute sei es auch, daß die Fraktionsvorsitzenden der Parteien, Hans-Jochen Vogel und Björn Engholm (beide SPD), Theo Waigel (CSU), Wolfgang Mischnick (FDP) und Alfred Dregger (CDU), auf Schloss Gymnich, Honeckers Bonner Residenz, Schlange standen, um ein 30-Minuten-Gespräch mit dem umworbenen Gast gewährt zu bekommen. Nicht ein einziges Mal sei das Wort »Unrechtsstaat« gefallen. Im Gegenteil, selbst Dregger habe Honecker als einen »deutschen Kommunisten« begrüßt und hinzugefügt, da er »deutscher Demokrat« sei, gebe es Gemeinsamkeiten. Bundespräsident Richard von Weizsäcker sei noch weiter gegangen und habe an die Leiden Honeckers in der Zeit der faschistischen Gewaltherrschaft erinnert. Glücklicherweise habe er ihn allerdings nach der Rückgewinnung Ostdeutschlands nicht in der Haftanstalt in Berlin-Moabit besucht, in der die Gestapo den kommunistischen Widerstandskämpfer von 1935 bis 1937 untergebracht hatte.
Selbst die Crème de la Crème der Wirtschaft habe sich angebiedert. 400 ihrer namhaftesten Vertreter hätten sich in Köln zusammengefunden, um mit dem Gast und mitgereisten Kombinatsdirektoren Perspektiven einer gedeihlichen Zusammenarbeit zu beraten. Keiner der Redner sei auch nur mit einer Silbe auf die marode DDR-Ökonomie eingegangen. Statt dessen habe sich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages nicht entblödet, dem Vorsitzenden des Staatsrates aufrichtig dafür zu danken, daß er sich im Rahmen seines dicht gedrängten Programms Zeit für eine Begegnung mit der BRD-Wirtschaft genommen habe.
Unverständlich und immer noch inakzeptabel sei auch das Verhalten der Beamten des Bundeskriminalamtes gewesen, die bei der Absicherung des Besuches eng und kooperativ mit den Schild- und Schwertträgern der SED, den Experten der Stasi, zusammengearbeitet hätten.
Insgesamt sei, so soll es in der Dokumentation heißen, der pompöse Empfang Honeckers in der Bundesrepublik eine schockierende Aktion gewesen, die bis heute zur Verklärung der DDR mißbraucht würde. Das umso mehr, da sich Bundeskanzler Kohl danach im Bundestag zu der Erklärung hinreißen ließ: »Schon heute kann ich mit Befriedigung feststellen: Die Ergebnisse dieses Besuchs sind beachtlich. ... Wir haben bedeutende Fortschritte in der politischen Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten in Deutschland erreicht ...«
Außerordentlich kritisch werden den Gerüchten zufolge auch die zahllosen Besuche bundesdeutscher Demokraten in Ostberlin bewertet. Allein in den 1980er Jahren hätten nahezu alle Politiker von Rang und Namen bei Honecker angeklopft und erfolgreich um eine Audienz ersucht, darunter Hans-Jochen Vogel, Franz Josef Strauß, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Wolfgang Mischnick, Otto Graf Lambsdorff, Oskar Lafontaine, Johannes Rau, Herbert Wehner, Gerhard Schröder, Eberhard Diepgen, Martin Bangemann, Lothar Späth, Bernhard Vogel, Wolfgang Schäuble, Klaus von Dohnanyi, Volker Rühe, Alfred Dregger, Björn Engholm, Henning Voscherau, Ernst Albrecht. Auch eine mehrfache sogfältige Durchsicht aller Gesprächsprotokolle habe an keiner Stelle auch nur einen Hinweis erbracht, daß die also Geehrten den Unrechtscharakter der DDR angesprochen hätten.
Als eine besonders peinliche Randerscheinung würden schließlich die häufigen freundlichen Telefongespräche Kohls mit Honecker und Krenz gewertet. Als letzterer zum Staatsratsvorsitzenden gewählt worden war, sei Kohl überflüssigerweise so weit gegangen, ihm »für diese wichtige Aufgabe Kraft, eine glückliche Hand und Erfolg« zu wünschen und ihm ständige vertrauliche Kontakte anzubieten. Selbst die Tatsache, daß er später tatkräftig mitgeholfen habe, Krenz hinter Schloß und Riegel zu bringen, könne dieses schimpfliche Verhalten des »Kanzlers der Einheit« nicht aus der Welt schaffen.
Soweit die wenigen bisher bekanntgewordenen Details aus dem angeblich vorbereiteten Weißbuch. Sollte sich dessen Vorbereitung als bloßes Geraune erweisen, so wäre auch das kein Beinbruch. Selbst Gerüchte können zuweilen an Tatsachen erinnern, die der Erinnerung wert sind.