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Titel0811

Rationalität  (Hans-Peter Waldrich)

Rainer Brüderle, der Wirtschaftsminister, hat mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hatte er, laut Protokoll, den Spitzenvertretern der Wirtschaft erklärt, angesichts bevorstehender Landtagswahlen laste ein großer Druck auf der Regierung und in derartigen Fällen seien Entscheidungen »nicht immer rational«. Er meinte das Atommoratorium.

Was, fragte ich mich, versteht Brüderle unter Rationalität? Laut Fremdwörterbuch hat Rationalität etwas mit Vernunft zu tun. Brüderle könnte sich, klassisch liberal, in bester Tradition der philosophischen Aufklärung sehen. Vernunft war damals, wie uns die Philosophiegeschichte und ein Nachschlagen etwa bei Immanuel Kant belehren, als eine Art Brücke gedacht, über die Menschen –auch über manchen Gegensatz hinweg – zu einer gemeinsamen Auffassung vorstoßen können. Rational sein hieß, sich nach erprobten, allgemeingültigen Denkregeln verständigen zu können.

Die Brücke der vernünftigen Verständigung ist aber wohl schon lange abgerissen worden. Denn wie kann gerade in diesen Tagen irgend etwas im Zusammenhang mit der Nutzung der Kernenergie als »rational« bezeichnet werden? Einer der weltweit größten Ausbeuter dieser Technologie ist die Tokyo Electric Power Company, Incorporated, kurz Tepco, eine japanische Aktiengesellschaft. Ich weiß nicht, wie Herr Brüderle das sehen würde oder der BDI – rein soziologisch oder rechtlich betrachtet ist dieses Unternehmen nicht ohne weiteres von einer kriminellen Vereinigung zu unterscheiden. Tepco betreibt die Pannenreaktoren, die uns in diesen Wochen das Fürchten lehren. Das Sündenregister der Firma ist lang. Dazu gehören die systematische Fälschung von Prüfberichten im Hinblick auf die Sicherheitsvorkehrungen, die Arbeit mit unzulässigen und technisch mangelhaften Methoden, die Vertuschung von Störfällen – alles Skandale, die seit Jahren bekannt sind.

Nun hatte Brüderle, als er beim BDI sprach, nicht die japanische Atomindustrie vor Augen, sondern die deutsche. Abschalten hierzulande mag ihm irrational vorkommen, Weitermachen nützlich und gescheit. Was dem Wirtschaftsminister vernünftig zu sein scheint, ist aber für andere ein Gipfel des Irrsinns: Das Problem der Endlagerung des Atommülls ist ungelöst, sogenannte Restrisiken können statistisch gesehen jeden Moment eintreten, es gibt keine Sicherheit vor Terrorangriffen oder Flugzeugabstürzen – selbst wenn wir unterstellen, in Deutschland denke keiner der Betreiber auch nur im Traum an Fälschung, Korruption oder Vertuschung.

Aber vielleicht bezog sich Brüderle gar nicht auf den hehren Vernunftbegriff der philosophischen Aufklärung. Wahrscheinlich dachte er an das betriebswirtschaftliche Rationalprinzip. Hier bedeuten die acht Buchstaben »rational« etwas ganz anderes. Das Rationalprinzip ist eine schlichte Rechenanleitung: Du sollst mehr einnehmen, als du ausgibst! Oder mit Helmut Kohl gesprochen: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. In diesem Falle verschieben sich die Maßstäbe von Vernunft und Rationalität bis ins glatte Gegenteil.

Jetzt kann es durchaus sinnvoll erscheinen, Restrisiken und jede Möglichkeit von Unfällen auszublenden. Als externe Kosten werden sie dem Steuerzahler angerechnet. Diese Art des Vernunftgebrauchs geht von einer gesellschaftlichen Grundentscheidung aus: Privateigentum rangiert vor öffentlicher Wohlfahrt. Auch die Technik, die allen nützen könnte, hat sich betriebwirtschaftlicher Logik zu beugen. Die Bedienung der Aktionäre und des Börsenkurses geht dem Allgemeininteresse vor. Im Licht der Bilanzen und der Dividenden können sich tödliche Gefahren als lächerliche Einbildungen ausnehmen und sogar als Spekulations- und Investitionsanreize.

Tepco, so erfahren wir, sei im Laufe der Jahrzehnte immer wieder vor der Erdbeben- und Tsunami-Gefahr in dieser Region Japans gewarnt worden. Im Sinne der guten alten Aufklärung gehört nicht viel Vernunft dazu, die Berechtigung solcher Warnungen zu erkennen. Sie energisch zu bestreiten und in den Wind zu schlagen, ist die hochbezahlte Leistung von Managern, Anlageberatern und Politikern, die auf eine möglichst schnelle Steigerung der Kapitalrendite hinarbeiten. Was den einen sinnvoll vorkommt, ist für die anderen finsterer, lebensbedrohender Wahnsinn.