Das »Kulturjournal« des NDR-Fernsehens besann sich. Die Redaktion entschied, »das größte Literaturfestival Norddeutschlands« nicht zum Thema seiner Sendung Anfang April zu machen. »Zu regional« fand sie etwas überraschend die »Vattenfall-Lesetage«, eine seit Jahren vom Betreiber der Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel finanzierte Literaturwoche. Gleichfalls »zu regional« erschien der »Kulturjournal«-Redaktion aber auch ein Interview mit Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger verwahrt sich vehement gegen die Vereinnahmung der Literatur durch Vattenfall zwecks Aufbesserung des nach Bränden und Leckagen in den Atommeilern ramponierten Firmenimages.
Auf das »Greenwashing« der Atomindustrie antwortete Grass mit einer Lesung direkt vor dem maroden Vattenfall-Reaktor in Krümmel. Auch die Bestseller-Autoren Feridun Zaimoglu und Nina Hagen traten in der Veranstaltungsreihe »lesen ohne atomstrom« gegen den Atomkonzern auf, 60 weitere Schriftsteller kamen binnen einer Woche hinzu. In der Wahrnehmung des NDR-»Kulturjournals« aber ist dieses literarische Starensemble »für den Zuschauer in Braunschweig oder Schwerin zu weit weg«.
Die Zurückhaltung in Sachen Atom und Literatur ist aber wohl weniger redaktioneller Ausgewogenheit geschuldet als vielmehr höchster Senderpolitik. Denn die öffentlich-rechtliche Anstalt scheint sich derzeit mit ihrer delikaten Rolle als »Medienpartner« des Atomkonzerns Vattenfall zu quälen.
Für diese »Partnerschaft« mit dem Atomstromproduzenten hatte sich die NDR-Führung schon lange vor der Fukushima-Katastrophe entschieden. An dem Miteinander ist dem NDR offenbar seit Jahren viel gelegen. So viel, daß der gebührenfinanzierte Sender seine Nähe zum Atomkonzern in diesem Jahr nochmals verstärkte: Bis zum letzten Jahr war nur das NDR-Hörfunkprogramm »Partner«, in diesem Jahr trat auch noch die Fernsehsparte des NDR offen an die Seite des Energieversorgers. Auf zahllosen Vattenfall-Plakaten und -Programmen ist das Logo »NDR 90,3 / Hamburg Journal« plaziert. »Das ist an der Grenze – zumal der NDR die Partnerschaft nicht transparent macht«, sagt der Hamburger Medienprofessor Hans Kleinsteuber.
Neben dem NDR als öffentlich-rechtlicher Institution engagieren sich auch zahlreiche Mitarbeiter des Senders persönlich für die Vattenfall-Veranstaltungen. So präsentiert Julia Westlake – Moderatorin des »Kulturjournal«, das am imposanten Schriftstellerauflauf gegen Vattenfall so wenig Gefallen finden konnte – die Abschlußfeier der »Vattenfall-Lesetage«. Tagesschau-Redakteur Tilman Bünz, lange als ARD-Korrespondent in Schweden tätig, moderiert den Skandinavischen Abend des schwedischen Atomkozerns. Und noch vier weitere NDR-Mitarbeiter engagieren sich in diesem Jahr bei Vattenfall, darunter auch der Moderator der NDR-Talkshow Hubertus Meyer-Burkhardt, der als Professor der Hamburg Media School den Nachwuchs auf den harten Journalistenalltag vorbereitet.
»Die Moderatoren sind weder vom NDR entsandt, noch werden sie vom NDR für ihre Tätigkeit honoriert. Soweit Honorare gezahlt werden, kommen sie jedenfalls nicht von uns«, verlautbart NDR-Sprecher Martin Gartzke. Das bewahrt den NDR nicht vor dem Zorn der Schriftsteller. Günter Grass: »Der Lobbyismus kennt offenbar keine Grenzen. Nun hat sich auch noch eine Anstalt des Öffentlichen Rechts in Gestalt des NDR in eine schmutzige Partnerschaft mit dem Atomkonzern Vattenfall eingelassen.«
Vattenfall seinerseits dürfte sich nicht ohne Grund mit dem meistgehörten Hörfunkprogramm und der zuschauerstärksten Fernsehsendung Hamburgs zusammengetan haben: »Das Unternehmen erhofft sich davon Reputation«, ist sich Kleinsteuber sicher. Denn wenn Vattenfall nicht gerade zum Literaturvergnügen lädt, scheut der Atomkonzern eher das Licht der Öffentlichkeit, besonders wenn es um sein Kerngeschäft geht. So war es 2007, als es am Atommeiler in Krümmel lichterloh brannte, und so war es 2009, als eine dramatische Notabschaltung dieses Reaktors nahezu alle Hamburger Verkehrsampeln lahm legte und Dutzende Wasserrohre bersten ließ. Selbst anläßlich solch schwerer Zwischenfälle informierte Vattenfall nicht umgehend die Öffentlichkeit, die Anwohner, die Atomaufsicht. Das musste in der Elbmarsch erst die Ortspolizei übernehmen.
Zuletzt waren übrigens schon die Nebenjobs eines anderen öffentlich-rechtlichen Journalisten, des »ARD-Wissenschaftsexperten« Ranga Yogeshwar, ruchbar geworden. Er stand über Jahre in Diensten des Atomkonzerns e.on, moderierte Veranstaltungen des AKW-Betreibers und nahm 2008 sogar an einer internen »Strategiesitzung« des Konzerns teil. Yogeshwar sieht im Zusammenhang mit seinen diversen Tätigkeiten für die Atomindustrie »keinen Interessenkonflikt«, zumal er »seit vielen Jahren eine kritische Position in Sachen Kernenergie« einnehme. Zuletzt fiel Yogeshwar in der Berichterstattung über Fukushima dadurch auf, daß er die von den havarierten Reaktoren ausgehenden Gefahren verharmloste und die Lage in Japan – im Gegensatz zu den meisten anderen Sachverständigen – recht optimistisch, jedenfalls »nicht ausweglos« einschätzte.
Der aktuelle Deal des NDR mit dem Atomkonzern Vattenfall übersteige die Affäre um Yogeshwar aber erheblich, meint ein leitender NDR-Redakteur: »Hier ist es der Sender als Ganzes und mit ihm noch diverse seiner Moderatoren und Redakteure, die sich mit dem Atomkonzern sehr eng eingelassen haben. Das ist die hauseigene Kernschmelze.« Oder anders ausgedrückt: Droht hier der radioaktive Zerfall von Unabhängigkeit und Seriosität der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung?