Beckmann, der Kriegsheimkehrer, kommt heute nicht aus Rußland zurück, er kommt vom Hindukusch. Er hat Albträume. Im Hamburger Thalia-Theater schreit und flüstert er sein Trauma stellvertretend für alle Soldaten dem Publikum ins Ohr. Wolfgang Borcherts Stück »Draußen vor der Tür« wurde am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt, inszeniert von Wolfgang Liebeneiner. Der Autor starb einen Tag davor. In Hamburg führt heute Luk Perceval Regie. Borcherts Text benutzt er wie eine Partitur für ein – um ein belastetes Wort zu verwenden – Gesamtkunstwerk. Musik und Wort bilden eine Einheit. Es braucht nicht den direkten Hinweis auf aktuelle Kriege – das, was Beckmann erleidet, ist, leider, zeitlos. Felix Knopp spielt den Beckmann. Er ist gleichzeitig Sänger der Gruppe »My Darkest Star«, die mit Gitarre, Baß und Schlagzeug das musikalische Gerüst schafft für die Lyrik und den Aufschrei, die in Borcherts Text stecken. Was sagt der Oberst im Stück, lachend? »Sie müßten das Ganze mit Musik bringen.« Er sieht Beckmann nur als einen Witz. Die Band aber unterstützt den Text mit ihrer Musik, die mitfühlt, sanft oder provozierend.
Die Personen, denen der einbeinig mit Krücken heimgekehrte Beckmann begegnet oder die er aufsucht, sie alle werden von Barbara Nüsse so dargestellt, daß man fast nicht merkt, daß es ein einziger Mensch ist, der sie alle spielt. Kleine Veränderungen an der Kleidung reichen aus, jede Figur ist unverwechselbar: das Mädchen, der Oberst, der liebe Gott, der Kabarettdirektor, Frau Kramer, die – anders als bei Borchert – hier einen Ehemann (Peter Maertens) hat. Dieses Paar, das nun in Beckmanns elterlicher Wohnung lebt, unrechtmäßig, wie er meint. Seine Eltern, die sich – vielleicht allzu voreilig – gleich nach dem Krieg mit Gas umbrachten. Weil sie zu judenfeindlich waren, wie er durch die Kramers erfuhr. Dieses alte Paar, auf der Bank sitzend, unter die Bank kriechend, hat sich in Beckmanns Eltern verwandelt. Opfer?
Die phantastischen Schauspieler der Theatergruppe »Eisenhans«, Darsteller mit Down-Syndrom, Behinderte genannt, stellen das Volk dar, mit dem alles gemacht wird und das alles mitmacht. Sie marschieren in Uniform, laufen mit, verrenken sich und liegen am Schluß toten Puppen gleich auf der Bühne, die sich dreht wie die Erde. Und sie bedrängen Beckmann wie Fleisch gewordene Ängste oder Traumgestalten.
Die Realität, in die Beckmann heimkehrt, zeigt sich ihm als Albtraum, und was er mit sich herumschleppt, ist ein Trauma, das keiner verstehen will. Die Bühne (Katrin Brack) drückt dieses Gefühl, das zweigeteilte, aus; auch die Spaltung in den »Anderen« zeigt sich auf adäquate Weise: auf einer riesigen Spiegelwand, die, um 45 Grad gekippt, die Welt verdoppelt. Oder eine Gegenwelt schafft, in der sich Beckmann befindet zwischen versuchtem und vollendetem Selbstmord.
Beckmann kommt zum Oberst, seinem früheren Vorgesetzten, um ihm die Verantwortung zurückzugeben, die der ihm damals für elf Soldaten übertrug. Soldaten, die Beckmann nicht retten konnte im russischen Gorodok, Tote, die ihn jede Nacht bedrängen. Und sein Albtraum vom fetten blutschwitzenden Mann, der auf einem Riesenxylophon aus Menschenknochen spielt. Die Blut-streifen an der Hose machen ihn zum General. Ein Bild wie von Felix Nußbaum gemalt. Der Oberst findet es sehr komisch. Immerhin – Beckmann hat ihn beim Abendessen gestört – hört er ihm zu. Rhythmisch schmatzend wie ein Metronom, ausgerüstet mit Besteck wie mit Waffen. Die »komische Nummer« soll einen alten Anzug von ihm kriegen. »Werden Sie erstmal wieder ein Mensch!« Beckmann sagt nichts, der Ausbruch »Ein Mensch? Werden?« findet nicht statt. Nur ein unendlich langes Schweigen, ein Schreien nach innen, ein Implodieren. Wagt er nicht, vor dem Oberst laut zu werden? Dann bricht sich die aufgestaute Wut und Verzweiflung des Unterdrückten Bahn. Nach dem Stammeln mit zittriger Kinderstimme, dem fast tonlosen Krächzen, das er ins Mikrophon flüsterte die ganze Zeit, ausgebrannt auch die Stimme – jetzt schreit es aus ihm heraus und es ist Musik, schlägt über dem Oberst und dem Publikum zusammen.
Dann versucht er das, was der Oberst als Lachnummer bezeichnete, als Zirkusnummer zu verwirklichen. Beckmann geht zum Direktor eines Kabaretts, führt sich vor. Doch der Meister ist beschäftigt mit Rauchen und mit seiner Performance: Streichhölzer, die nicht brennen wollen, auf den Boden zu werfen. Beckmann strampelt sich gleichzeitig am Boden und an die Wand gespiegelt im Lichtkreis ab. Wie eine Ratte im Tretrad. Der Direktor sieht gar nicht hin. Sagt auch mal einen Satz zu Beckmanns Künsten, aber zum Publikum gewandt: »Mit der Wahrheit machen Sie sich doch nur unbeliebt.« Die abgebrannten Streichhölzer liegen am Boden wie die Soldaten des vergangenen Krieges, sie haben nicht funktioniert, sind zu nichts mehr nütze. Publikum lacht. Auch Gott, der liebe Gott, kann nichts ändern. Er steht hilflos herum, ein alter Mann mit Chaplin-Hut und Stock, zwischen den vielen leblosen Körpern auf der sich weiter drehenden Welt.
Die Gasmaskenbrille des Soldaten Beckmann fehlt, er trägt sie unsichtbar, wie eingebrannt. Percevals Gewicht auf Emotionen und auf die Musik paßt zu Borcherts herausgeschleudertem atemlosem Text. Aber dabei gehen Sätze verloren oder werden unhörbar wie diese: »Und der Mörder bin ich. Ich? Der Gemordete, ich, den sie gemordet haben, ich bin der Mörder? Wer schützt uns davor, daß wir nicht Mörder werden?«