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Titel0811

Bemerkungen

Das Wörtchen »wenn«
»Kann es denn angehen, daß in einer Gesellschaft, die über 100 Milliarden Euro Exportüberschüsse har, jedes fünfte Kind unter Armutsbedingungen aufwächst«, fragt Oskar Negt, Sozialphilosoph und Gewerkschaftsfreund, in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Mitbestimmung, Organ der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung. Und er kommt zu dem Schluß: »Wenn dieser Kapitalismus so bleibt, dann muß die Gewerkschaft aus Selbsterhaltungsgründen auch die Systemfrage wieder zulassen und diskutieren.« Ein Satz, der nachdenklich stimmt. War und iust derzeit die Systemfrage gewerkschaftlich nicht geduldet? Ist sie nach Wiederzulassung vielleicht wie ein Seminarthema zu behandeln? Oder bleibt der Kapitalismus eventuell gar nicht so, wie er ist, sondern wandelt sich zu einem rundum erträglichen System? Dann könnten die Gewerkschaftsvorstände erst mal abwarten, bevor sie sich ans Zulassen und Diskutieren dieser K-Frage machen.

Arno Klönne


Koch statt Kellner
Kann sein, daß die neue demoskopische Volkspartei einen Kandidaten oder eine Kandidatin fürs Kanzleramt braucht, wenn in einer möglichen Koalition mit der SPD Koch und Kellner ihre Plätze tauschen. Deutschlands Presse ist bereits auf der Suche nach der geeigneten Person. Die Welt aus dem Springer-Konzern prescht vor: Vielleicht doch Joschka, auch wenn der sich noch ziert? Denn Fischer habe »biblische Führungsqualitäten«.
Worin diese näher betrachtet bestehen, ergänzt der Chefredakteur der WAZ-Zeitungsgruppe, die das Ruhrgebiet, den Freistaat Thüringen und weite Teile des Balkan dominiert: »Fischer ist ein geborener Kanzlerkandidat. Als Bundesaußenminister hat er die pazifistischen Grünen mit der Notwendigkeit von Militäreinsätzen versöhnt.«

Joseph Fischer wird sich gewiß sorgfältig überlegen, ob er diesen Aufforderungen folgen will. Er müßte auf seine verdienstvollen Tätigkeiten für RWE, BMW, Siemens, REWE et cetera verzichten. Da mag selbst die biblische Rolle des Moses doch nicht so verlockend sein.
Clara Tölle


Kreativ
Die Frankfurter Rundschau, über Jahrzehnte hin angesehen als überregionale »linksliberale« Tageszeitung mit Verständnis auch für Interessen der Arbeitnehmerschaft, wird nun zum Regionalblatt degradiert, für das die Berliner Zeitung die politischen Seiten liefert. Die unternehmerische »Schuldenbremse« mache diese Konzentration und den damit verbundenen Stellenabbau notwendig, sagt der besitzende Zeitungskonzern DuMont, dem unter anderen auch der Kölner Stadt-Anzeiger und die Mitteldeutsche Zeitung gehören; an der Frankfurter Rundschau ist außerdem die SPD-Medienholding beteiligt. Weniger journalistisches Personal also – und das zu geringerem Lohn.

Nun gibt es aber Tarifverträge, und der Konzern zeigt sich besonders kreativ bei dem Bemühen, diesen zu entfliehen. Deshalb gründet DuMont neue Firmen, die dann ihre journalistischen Leistungen an die Zeitung verkaufen; Mitarbeiter müssen sich, wenn sie ihren Job behalten wollen, zu dem neuen Arbeitgeber mit seinen schlechteren tariflichen Bedingungen verschieben lassen, Betriebsrat und Gewerkschaft sind lahmgelegt.

Im vierköpfigen DuMont-Vorstand agiert ein Mann, der sich im Themengebiet »Ausbeutung« und »Mehrwert« gut auskennt: Franz Sommerfeld, in jungen Jahren Chefredakteur der Roten Blätter, Organ des Marxistischen Studentenbundes Spartakus. Er hat es nach seinem Seitenwechsel zu etwas gebracht. Der Konzern kann mit ihm zufrieden sein.
M. W.


Fleißig gelernt
So geht’s nicht weiter, werden sich Prominente und Funktionäre der Partei, die sich Die Linke nennt, gesagt haben – die Massenmedien nahmen kaum noch Notiz von ihnen. Also sorgten sie für Abhilfe, Lafontaine mußte her. Nicht wirklich, sondern als Phantom: Über seine Rückkehr in die Bundesspitze der Partei müsse man nicht spekulieren, so schlecht sei es um das jetzige Führungspersonal denn doch nicht bestellt. Und dann: Über die Gründe dafür, daß eine solche Spekulation aus der Partei heraus in die Medien gebracht wurde, wenn auch als Dementi, sollte auch besser erst gar nicht spekuliert werden. Undsoweiter: Personalia als Haschen nach Aufmerksamkeit in den Redaktionsstuben von Zeitungen, die dieser Partei gewohnheitsmäßig üble Eigenschaften nachreden wollen und sich darin nun bestärkt fühlen; zugleich als Bemühen Einzelner, sich parteiintern auf dem Umweg über Medien als very important persons darzustellen.

Von Politik war bei alledem nicht die Rede. Die Partei Die Linke hat damit ihre Lernfähigkeit einmal mehr nachgewiesen; sie ist in der Tat »angekommen« – in einem Parteienbetrieb, der Personalspiele veranstaltet, um von gesellschaftlichen Problemen abzulenken.
Marja Winken


Was ist Europas eigene Sache?
»Schluß mit Europa!« hieß es 1928 bei dem nationalliberalen Ökonomen Arthur Dix. Mittlerweile klingt es selten so radikal, der Anti-Europa Diskurs ist zu einem EU-kritischen Diskurs geworden. Daran beteiligt sich auch Jochen Bittner. Er versucht, »die drei großen Fehler der EU« anzuprangern: »Kleines zu groß und Großes zu klein«, »Weiches zu hart und Hartes zu weich« sowie »Oben zu schnell und unten zu langsam«. Die Quintessenz kommt dann wenig überraschend. Die EU kümmere sich viel zu oft um technische Kleinigkeiten, die keiner europaweiten Regelung bedürften, sie regiere am Bürger vorbei, und ihre demokratische Legitimation sei fragwürdig. Auch der Brüssel-Straßburger Wanderzirkus wird angeprangert. Alles so oder ähnlich schon einmal gehört. Interessanter wird es, wenn der Zeit-Journalist Bittner hinter die Kulissen geht, mit den Akteuren selber spricht und ihr Selbstverständnis, zum Teil aber auch ihre Hilflosigkeit deutlich macht.

Um die EU zu einem sinnvolleren Projekt umzuwandeln, fordert er weniger Regulierung, mehr punktuelle Projekte, und vor allem liegt ihm daran, daß die EU sich ihrer »eigenen Sache« bewußt wird und auch außenpolitisch als Block auftritt. Dazu gehört für ihn, den Einfluß in der Ukraine oder der Türkei zu verstärken, um vor allem wirtschaftlich und rohstofftechnisch besser dazustehen. Nicht zuletzt geht es ihm um die bessere Vernetzung der europäischen Waffenindustrien sowie eine einheitliche Heeresaufsicht, damit die EU auch militärisch zu einer Weltmacht aufsteigen kann. Ist das die »eigene Sache«, für die uns Europa lieb und teuer werden soll?

Zu anderen Problemen, die sich bei solch einem Buchtitel aufgedrängt hätten, findet man hingegen nichts. Weder die Lobbyarbeit in Brüssel noch die Lage der Flüchtlinge, die die Auswirkungen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ganz konkret in überfüllten Lagern erfahren, werden angesprochen.
Sebastian Triesch

Jochen Bittner: »So nicht, Europa! Die drei großen Fehler der EU«, dtv, 288 Seiten, 14,95 €



Freundbild: Die Kroaten
Der Balkan – von außen betrachtet ein schwer zu entwirrendes Geflecht sich überlagernder Ethnizitäten und Religionsgemeinschaften, einzigartig in Europa. Auch das Schlagwort vom »Pulverfaß« geht darauf zurück. Der ehemalige ARD-Korrespondent in Belgrad, Ulrich Schiller, will diese Verhältnisse und das Zusammenleben auf dem Balkan unter besonderer Berücksichtigung des kroatischen Nationalismus erklären. Dieser konnte sich im 20. Jahrhundert vor allem durch deutsche Unterstützung entfalten. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens durch die Nazi-Wehrmacht 1941 wurde der faschistischen Ustasa-Bewegung ein eigener, kroatischer Staat zugestanden. Getrieben von militantem Katholizismus und Antisemitismus setzte eine Vernichtungspolitik gegen Serben, Roma und Juden ein. Die deutsche Beteiligung ist bisher kaum aufgearbeitet. Zu Titos Zeiten blieb der kroatische Nationalismus vor allem im Ausland als politische Kraft aktiv. Schiller schildert, wie Unterstützernetzwerke organisiert und Anschläge auf jugoslawische Einrichtungen auch in der Bundesrepublik Deutschland verübt wurden. Welche Rolle der Bundesnachrichtendienst dabei spielte, müßte noch näher erforscht werden.

Nach dem erneuten Zerfall Jugoslawiens sah man in Westeuropa über die Vorgeschichte hinweg. Vor allem Deutschland wirkte auf eine rasche Anerkennung des kroatischen Separatstaates hin. Die Serben galten sehr schnell wieder als Feind. Strammer Katholizismus qualifiziert zur Zugehörigkeit zum »Westen«, die man den Serben verweigert. Schiller zeigt die Primitivität solcher Freund-Feind Bilder. Sein Buch ist gespickt mit persönlichen Erfahrungen, die er seit den 1950er Jahren in der Region gewonnen hat.
S. T.

Ulrich Schiller: »Deutschland und ›seine‹ Kroaten. Vom Ustasa-Faschismus zu Tudjmans Nationalismus«, Donat Verlag, 228 Seiten, 14,80 €



Der richtige Despot – auf Widerruf

Der schon lange anhaltende und blutige Machtkampf zwischen zwei »Staatspräsidenten« der Republik Elfenbeinküste ist entschieden. Dank der Hilfe des französischen Militärs hat sich Alassane Quattara gegen Laurent Ghagbo durch gesetzt. Die brutalen Machtkämpfe in diesem Lande werden damit nicht beendet, ethnische und soziale Konflikte nicht gelöst sein. Vertreter von Organisationen, die versucht haben, an der Elfenbeinküste Entwicklungshilfe zu leisten, lassen keinen Zweifel daran, das Quattara nicht weniger gewalttätig ist als sein bisheriger Rivale Ghagbo; als Demokratiebringer und Friedensstifter läßt er sich nicht präsentieren. Aber er ist der richtige Mann im Angebot von Despoten: Früherer Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds, als Politiker eingeschworen auf Privatisierung, verbunden mit französischen Unternehmern, die wichtige Zweige der Wirtschaft seines Landes in ihrer Hand haben. Außerdem war es der jetzige französische Staatspräsident und ehrgeizige Kriegsherr Nicolas Sarkozy, der als Bürgermeister von Neuilly seinerzeit den nunmehrigen Sieger Quattara getraut hat. Ob der sich auf seinen Gönner in Paris für alle Zeiten verlassen kann, ist allerdings fraglich; freundschaftliche Beziehungen unterhielt Sarkozy bis vor kurzem auch zum libyschen Machthaber Gaddafi. Neokoloniale Politik ist frei von persönlicher Sentimentalität.
Peter Söhren


Bericht über Gaza
Die Invasion des Jahres 2008/2009 in Gaza rief weltweit Empörung hervor. Die Bilder von der Zerstörungswut des israelischen Militärs, der Tötung von Frauen und Kindern und des nachfolgenden katastrophalen Elends konnten selbst von den hartnäckigsten Befürwortern der israelischen Politik nicht wegdiskutiert werden.

Der US-amerikanische Autor Norman G. Finkelstein, Sohn eines Holocaust-Überlebenden, geht in seinem neuen Buch der Frage nach, wie es überhaupt zu dieser Invasion kommen konnte. Denn daß die schlechtbewaffneten Milizen der Hamas mit ihren selbstgebastelten Raketen eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bevölkerung darstellen, glaubt ernsthaft nicht einmal das israelische Militär. Die Antwort, die Finkelstein findet, ist denkbar einfach: Die Hamas wurde als Gegner für den nächsten Militärschlag ausgewählt, eben weil sie militärisch kein ernstzunehmender Gegner war. Nach der Niederlage gegen die Hizbollah-Milizen im Libanon-Krieg des Jahres 2006 brauchte das israelische Militär einen leicht zu erringenden Sieg, um seine andauernde Abschreckungsfähigkeit demonstrieren zu können. Und gleichzeitig waren die massiven Zerstörungen in Gaza eine Kollektivstrafe an der palästinensischen Bevölkerung dafür, daß sie sich eine aus israelischer Sicht falsche Regierung gewählt hatte.

Finkelstein charakterisiert diesen Angriff als »Rückfall in die Barbarei«, zitiert als Beleg aus internationalen Untersuchungsberichten und Aussagen beteiligter Soldaten. Entgegen den Darstellungen der israelischen Regierung kam es kaum zu Gefechten mit Hamas-Milizen; angesichts des militärischen Ungleichgewichtes warteten die meisten palästinensischen Kämpfer in unzugänglichen Bunkern auf das Ende der Invasion. Das Militär zerstörte während dieser 22 Tage dennoch 58.000 Wohnhäuser, außerdem Schulen, Kindergärten, Universitätsgebäude, Krankenhäuser, Moscheen, Fabriken und Werkstätten. Nach dem Abzug der Soldaten blieben 600.000 Tonnen Trümmer zurück, insgesamt wird der Schaden auf 3 bis 3,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Invasion kostete etwa 1.400 Palästinensern das Leben; vier Fünftel davon waren Zivilisten, etwa 350 noch im Kindesalter. Auf israelischer Seite starben während der Invasion zehn Soldaten, davon vier durch eigenes Feuer. Durch von der Hamas abgefeuerte Raketen wurden in Israel mehrere Wohnhäuser zerstört und drei Zivilisten getötet; der Gesamtschaden betrug etwa 15 Millionen US-Dollar.

Finkelstein weist nach, daß viele der palästinensischen Zivilisten mutwillig vom Militär getötet wurden, unter anderem, sogar als sie weiße Fahnen schwenkten. Von den beteiligten Soldaten wurde nur ein einziger von einem israelischen Gericht belangt – er hatte nachweislich einem Palästinenser die Kreditkarte gestohlen.

Der Autor zitiert mehrfach Richard Goldstone, Leiter der vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingesetzten Kommission, die die von beiden Seiten begangenen Kriegsverbrechen untersuchen sollte. Dieser, selbst entschiedener Zionist, kommt in seinem Bericht zu einem für das israelische Militär verheerenden Ergebnis. Finkelstein schildert die heftigen Kontroversen, die der Goldstone-Report in Israel und den USA auslöste. Wird die Israel-Lobby in den jüdischen Gemeinden nun tatsächlich, wie der Autor meint, bröckeln?
Gerd Bedszent

Norman G. Finkelstein: »Israels Invasion in Gaza«, Edition Nautilus, 224 Seiten, 18 €



Walter Kaufmanns Lektüre
Für knapp zehn Euro läßt sich Ihre Bibliothek um eine Scherzer-Anthologie bereichern, die unterhaltsam ist und Gedenkanstöße liefert. Sie liest sich flüssig, die Schreibweise besticht: kommt schlicht daher und lotet tief. Gedenkanstöße? Sind denn die verzweifelt-mutigen Kalikumpel aus Bischofferode noch in Erinnerung? Ihr Hungerstreik? Und wie sie Anfang der neunziger Jahre gegen Bonn fuhren, ohne das große Aus abwenden zu können? Topf & Söhne – wer war Topf und wer die Söhne? Und was für perfekte Öfen müssen das gewesen sein, die binnen vierundzwanzig Stunden 1.492 Krakower Juden in Asche verwandeln konnten und nach gesteigerter Leistungsfähigkeit in dem drauf folgenden Test 2.191 jüdische Opfer aus Griechenland in ebenso kurzer Zeit verbrannten? Topf & Söhne – Scherzer findet sie. Und was hat es auf sich mit den Reichen von Radebeul, wie wurden sie nach der Vereinigung so wohlhabend? Scherzer kommt dahinter und kann dem mit ihm wetteifernden Verkäufer im REWE versichern, daß er »endlich einem Millionär« auf der Spur ist. Und wer von den unzähligen Touristen, die sich alltäglich nach Hiddensee schippern lassen, wird auch nur einen Bruchteil von dem erfahren, was Scherzer, über die Insel radelnd, in kürzester Zeit aufdeckt? Einer, der so gelassen daherkommt, nur hier und da mal etwas fragt, warum wäre dem zu mißtrauen und nicht zu sagen, was man weiß? Der Leser wird Scherzer gern glauben, daß ihm einmal in einer Kneipe die Zeche von einem Fremden beglichen wurde, weil den die Begegnung mit ihm freute ...

Ich hatte Landolf Scherzers in »Urlaub für rote Engel« gesammelte Reportagen fast alle schon gelesen. Und las sie wieder. Mit Gewinn. Wie viel mehr werden sie Ihnen bringen, wenn Sie sie noch nicht kennen!
Walter Kaufmann

Landolf Scherzer: »Urlaub für rote Engel«, Aufbau Verlag, 283 Seiten, 9,95 €



Peter Ensikat

wird am 27. April runde 70. Seine Drohung, nichts mehr zugeben zu wollen, wird er hoffentlich auch fürderhin nicht tierisch ernst nehmen. Kann er ja gar nicht, denn das Schönste am Gedächtnis sind nach eigenem Bekennen die Lücken. Außerdem wäre er sonst nicht Spötter geworden, und was für einer!

Immerhin war er schon zu DDR-Zeiten der in der Mittelgebirgsdiktatur meistgespielte Textebelieferer für die Kabaretts in Gera, Dresden, Leipzig, Berlin und sonstwo, wofür er sowohl Verfemungen als auch Preise einstecken mußte. Die Untugend, anderen auf die Füße zu treten, behielt er unter erweiterten geographischen Bedingungen bei. Wenn er sich aus der Sicht der sozialen Marktwirtschaft nicht der Frage zugewandt hätte, ob es die DDR überhaupt gegeben habe, wären wir hilflos und wüßten weder, wo der alte Spaß aufhört noch wo der neue anfängt.

Das alles war noch nicht voraussehbar, als Peter Ensikat im angeblich sangesfreudigen Finsterwalde das Licht der damals verkehrten, heute hingegen völlig geordneten Welt erblickte. Dort baute er sein Abitur, studierte anschließend in Leipzig und im Leben die Schauspielerei und hüpfte ein reichliches Jahrzehnt über Bühnenbretter, bevor er sich auf das Risiko des freien Autors einließ. Kinderstücke, Reimereien, Märchenadaptionen, Regiearbeit und vor allem Kabarett-Texte. Künstlerischer Chef der Distel und schließlich – gleichsam als Krönung des Gesamtwerkes – Mitglied der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft. Das diesbezügliche Meisterstück: sein für eine KTG-Jahrestagung ungewöhnlicher Einführungsvortrag.

Mehr als diese ganzen Halbwahrheiten können wir in diesem Text nicht unterbringen. Leider. Der Rest muß bis zu seinem 80. warten. Sicher kommt dann noch manch anderer von ihm satirisch zu bearbeitender Skandal hinzu.
Herzlichen Glückwunsch, Peter Ensikat!
Wolfgang Helfritsch


Press-Kohl
Aus einer Nummer des Hamburger Abendblatts schnitt ich mir einen Beitrag mit der Überschrift »Die Babelsberger Studios – Erinnerung an Leinwand-Klassiker« aus: »In Babelsberg starteten weltberühmte Regisseure und Schauspieler ihre Karrieren«, was unmöglich scheint, weil keiner schon weltberühmt sein kann, wenn er seine Karriere erst startet.

»1921 erwarb die UFA das Gelände und produzierte Filmklassiker wie ›Das Kabinett des Dr. Caligari‹ von Robert Wiene.« Stimmt fast alles – nur war das Kabinett ein Cabinet, und der Film wurde nicht von der UFA produziert, sondern von der DECLA (»Deutsche Eclair«), und nicht in Babelsberg gedreht, sondern in den Ateliers der DECLA; die befanden sich damals in Berlin-Weißensee.
*
Renate Rauch, Kolumnistin der Berliner Zeitung, erinnerte sich in diesem Blatt an »Eine Begegnung mit Willy Brandt am Tag nach dem Mauerfall«:

»... Wir waren schon auf dem Rückweg zum Auto, da brauste eine schwarze Wagenkolonne heran, begleitet von Blaulicht und Martinshorn. Jetzt kommt Momper, sagte ich. Und tatsächlich, er stieg aus. Und mit ihm Willy Brandt ... Ich geriet neben einen der Bodyguards und wunderte mich, wie klein und zierlich er war.« Der Bodyguard oder Brandt? »Mein weiter Mantel umhüllte mich wie ein Zelt. Niemand verjagte mich ... Man konnte seinem Gesicht ansehen, wie er arbeitete, konzentriert auf das, was er gleich sagen würde. Man konnte die Bewegung sehen, die den Mann ergriffen hatte, obwohl kein Muskel zuckte, eine abweisende, perfekte Fassade; darin war er Meister. Er hatte das bewegteste unbewegte Gesicht, das man sich denken konnte, alles war darin zu lesen und nichts, nur ein heiliger Ernst, der die Stunde groß machte. Wie damals beim Kniefall in Warschau.«

Als ich Willy Brandt das letzte Mal sah, hatte er ein heiteres Gesicht. Er bot mir eine Zigarette an. Nett. Und keineswegs heilig.
Felix Mantel