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Titel0812

Erschreckende Nonchalance  (Moshe Zuckermann)

Der politische Diskurs in Israel ist in diesem Frühjahr von dem Gefühl geleitet, nicht recht zu wissen, ob man gewichtigen Analysen, Einschätzungen und deklarierten Handlungsinitiativen trauen darf; ob emphatisch Angesagtes beziehungsweise Angedeutetes von einem verantwortungsvollen Realitätssinn getragen ist; ob Sein und Schein überhaupt noch auseinanderzuhalten sind. Das betrifft zum Beispiel die im letzten Herbst sang- und klanglos untergegangenen sozialen Protestbewegungen, die Israels öffentliche Sphäre einen Sommer lang aufgewühlt und inspiriert haben und für den kommenden Sommer ihr Wiederauflodern angekündigt hatten. Vor allem aber betrifft es die von der politischen Klasse viel beschworene Bedrohung Israels durch die Entwicklung des iranischen Nuklearprogramms und die in diesem Programm angelegten Möglichkeiten für die Herstellung einer iranischen Atombombe.

Das Gefühl der Bedrohung hat einen realen Kern. Angesichts der überspannt-echauffierten Rhetorik des iranischen Ministerpräsidenten Achmadinedschad und seiner immerfort wiederholten Vernichtungsdrohungen gegen den zionistischen Staat nimmt sich die künftige Nuklearisierung Irans für israelische Ohren wesentlich gefährlicher aus als die mögliche atomare Bewaffnung anderer Staaten in Israels Nachbarschaft. Nicht nur die nukleare Aufrüstung des Mullah-Staates per se, deren Verwirklichungspotential in Größenordnungen von Jahren eingeschätzt wird, ist ein gravierender Faktor im Diskurs, sondern auch die angeblich knapp gewordene Zeit für einen möglichst effektiven israelischen Angriff auf die Infrastruktur des iranischen Nuklearprogramms; denn die Iraner haben kritische Bestandteile dieser Infrastruktur in unterirdische, aus der Luft nur schwer zu erreichende Bunker verlagert – als Konsequenz aus den erfolgreichen israelischen Angriffen auf nukleare Anlagen im Irak (Juni 1981) und in Syrien (September 2007). Dieses »Zeitfenster« beschränkt sich, wie massenmedial inoffiziell zur Sprache gebracht, auf wenige Monate in diesem Jahr. So verbindet sich ein allgemeines Bedrohungsgefühl mit der Annahme einer akuten zeitlichen Dringlichkeit – die perfekte Konstellation für politische Panikmache, wenn man an einer solchen interessiert ist.

Daß Israels Premierminister Benjamin Netanjahu an ihr interessiert ist, liegt auf der Hand – nicht nur, weil manipulative Panikmache längst schon zu seiner politischen Handlungs- und Regierungsmaxime geronnen ist, sondern weil es ihm damit in den letzten Jahren auch stets gelingt, das eigentliche Kernproblem des Nahostkonflikts, den seit Jahrzehnten fortwesenden Territorialkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, aus dem Bewußtsein der Weltöffentlichkeit zu verdrängen. Mit seiner Okkupationspraxis steuert er diesen Konflikt bewußt in eine politisch-historische Sackgasse. Die Verweigerung jeglichen Entgegenkommens, die zu einer totalen Lähmung der Bemühungen um friedliche Verständigung geführt hat, soll jetzt durch die vermeintlich akute Existenzbedrohung Israels gerechtfertigt erscheinen. Ein israelischer Regierungschef, der sich im US-amerikanischen Wahljahr bei einer Brandrede vor der pro-israelischen Lobbyvereinigung AIPAC nicht entblödet, Israels Lage im Jahre 2012 mit der von Juden in Auschwitz in den 1940er Jahren zu vergleichen, somit also zu suggerieren, die amerikanische Weigerung, militärisch gegen den Iran vorzugehen, analog zur Nichtbombardierung von Auschwitz durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg zu begreifen, treibt nicht nur ein ideologisches Unwesen mit dem neuralgisch geladenen historischen Vergleich, sondern treibt sich selbst in Handlungszwang. Wenn er das ausspricht (und meint), was er vor dem jüdischen Establishment der USA ausgesprochen hat, kann es sich Netanjahu nicht leisten, nicht auch präventiv zuzuschlagen.

Zu fragen ist dabei, ob diese Flucht in eine selbst herbeigeredete Notwendigkeit tatsächlich unhintergehbar ist, ob das vorgebliche Muß also wirklich ein solches ist. Diese Frage stellt sich umso mehr, als aus israelischen Militär- und ehemaligen Geheimdienstkreisen mittlerweile an die Öffentlichkeit gedrungen ist, womit die israelische Zivilbevölkerung als Rückschlag seitens eines attackierten Irans wird rechnen müssen: Von Hunderten, wenn nicht Tausenden Toten ist da die Rede; von der Verwüstung israelischer Städte durch Langstreckenraketenbeschuß aus dem Iran, aus Syrien, aus dem Norden Israels (Hisbollah) und seinem Süden (Hamas); von der Lähmung der israelischen Wirtschaft im Verlauf eines über Wochen, wenn nicht Monate dauernden Krieges – ganz abgesehen von den Auswirkungen eines solchen regionalen Kriegs auf die Weltwirtschaft durch Belastung der regulären Ölversorgung und das damit unweigerlich einhergehende Hochschießen der Ölpreise; ganz abgesehen von der endgültigen Isolierung Israels in der globalen Politik als Resultat ebendieser neuen Weltlage. Netanjahus engster Verbündeter bei diesem Unterfangen, Verteidigungsminister Ehud Barak, hat die Folgen für Israel als überschaubar und hinnehmbar eingestuft: Er rechnet mit nicht mehr als 500 Toten, einer Zahl, die ihm gemessen am Gewicht des gesamten Unterfangens offenbar angemessenen und in jedem Fall zu verkraften erscheint.

Es sei einmal dahingestellt, was die beiden israelischen Spitzenpolitiker bei ihrem aktionistischen Bellizismus antreibt. Die vermeintliche Sorge vor einer neuen Shoah dürfte dabei realiter eine eher geringe Rolle spielen, wenn man bedenkt, daß die mögliche Nuklearisierung Irans vermutlich in den aus Zeiten des Kalten Krieges bekannten Zustand eines Gleichgewichts des Schreckens münden würde: Der Besitz von Atomwaffen bedeutet noch lange nicht ihre leichterhand verordnete Verwendung. Es ist mitnichten davon auszugehen, daß Irans politische Führung weniger zweckrational denkt und handelt als die Israels, wenn auch Israels Propagandamaschinerie nicht müde wird, genau das zu suggerieren. Über Netanjahus und Baraks eher im Bereich persönlicher Erfolgserwartungen liegenden Motive darf hier geschwiegen werden; ohnehin könnten wir über sie nur spekulieren. Ungleich beunruhigender ist hingegen die unheimliche Ruhe, ja Apathie, mit der der öffentliche Diskurs Israels mit der Möglichkeit eines infolge des Angriffs auf den Iran zu erwartenden Rückschlags aufs israelische Hinterland umgeht. Von den Mahnungen einiger couragierter Publizisten abgesehen, ist dieser Diskurs von einer erschreckenden Nonchalance beherrscht: Die offizielle Panikmache hat offenbar dermaßen gut gewirkt, daß sich die öffentliche Sphäre des Landes in unerschütterlichem Vertrauen in dessen politische Führung übt. Ob dabei die Protestbewegung im letzten Sommer, ihre erstaunlich schnell erfolgte Evaporierung, die Sackgassensituation der israelischen Politik und das lemminghafte Stillhalten der Bevölkerung angesichts der ihm infolge eines initiierten Angriffs auf den Iran drohenden existentiellen Gefahr in einem kausalen Nexus stehen, wird sich erst im nachhinein abschätzen lassen – womöglich, wenn es zu spät ist.