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Sprechende Akten  (Lothar Zieske)

27. März: Im ersten Stock der Bremer Finanzbehörde sind etwa 100 Stühle aufgestellt, davor stehen Tische. Alles wirkt ein bißchen eng. Was ist der Sinn dieser ungewöhnlichen Maßnahme?

Das von der Finanzbehörde genutzte Haus hat eine bemerkenswerte Geschichte, die sich schon in seinem Namen »Haus des Reichs« andeutet. Als Verwaltungsgebäude der Firma Nordwolle in den Jahren 1928 bis 1931 errichtet, konnte es seinem ursprünglichen Zweck nur sehr kurze Zeit dienen: Im Februar 1931 erfolgte die Bauabnahme; im Juli ging die Nordwolle in die Insolvenz – ein Ereignis, das in der damaligen Weltwirtschaftskrise und damit auch in der Vorgeschichte der NS-Herrschaft eine dramatische Bedeutung bekam: Der Konkurs der Nordwolle riß die Danatbank (Darmstädter und Nationalbank) mit in die Pleite. Es war der Beginn der großen Bankenkrise in Deutschland.

In der NS-Zeit diente das Gebäude der Reichsfinanzverwaltung und damit zugleich der unter dem Begriff »Arisierung« bekannten Ausplünderung der Juden in Deutschland. Nach dem Krieg war das Gebäude – bevor es von der bremischen Finanzverwaltung übernommen wurde – Sitz der Militärregierung in der US-amerikanischen Besatzungszone. Unter deren Leitung stand anfänglich die Entnazifizierung, die mit dem »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« vom 9. Mai 1947 auch in Bremen in deutsche Hand überging. Hier wurde Margarete Ries aus Magdeburg vernommen, die Kapo in Auschwitz gewesen war.

2007 begann die Historikerin Eva Schöck-Quinteros mit Studierenden der Universität Bremen ein Projekt unter der Überschrift »Aus den Akten auf die Bühne«: Die Studenten erforschen ein Thema auf der Grundlage von Akten, die dann in szenischer Lesung von der »bremer shakespeare company« zum Sprechen gebracht werden. Über Einzelheiten des Projekts informiert die Website www.sprechende-akten.de. Im vergangenen Jahr lautete das Thema: »Entnazifizierung von Frauen in Bremen«. Zu diesem wie auch bereits zu den vorangegangenen Projekten erschien 2011 der Begleitband »Was verstehen wir Frauen auch von Politik? Entnazifizierung ganz normaler Frauen in Bremen (1945–1952)«. Die Akten einiger erforschter Spruchkammerverfahren waren im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Bremen »zum Sprechen« gebracht geworden.

Der Grund für die Wahl des ungewöhnlichen Aufführungsortes war derselbe gewesen, aus dem die szenische Lesung am 27. März im »Haus des Reichs« stattfand: Beide Orte waren mit Entnazifizierungsverfahren verbunden: Im Schwurgerichtssaal fanden Spruchkammerverfahren statt, im »Haus des Reichs« die Verhöre der Margarete Ries. Den Fall Ries bezeichnete seinerzeit Alfred Goebel, ein in der NS-Zeit jahrelang in Zuchthäusern inhaftierter Widerstandskämpfer, den die US-Militärbehörde als »Investigator« in der »Denazification Division« eingestellt hatte, in einem Bericht »als interessantesten und uns am meisten beschäftigenden Fall in unserer Dienststelle«. Er fügte hinzu: »Wochenlang haben wir uns mit diesem Thema befaßt und in stundenlangen Diskussionen uns mit den Tatsachen und deren Ursachen auseinandergesetzt.« Dabei ist allein schon der Fall »eines Funktionshäftlings in der Überlieferung der Entnazifizierungsakten des Staatsarchivs Bremen nach unserer Kenntnis einmalig«, wie Eva Schöck-Quinteros und Sigrid Dauks im Vorwort des Begleitbandes zu dieser szenischen Lesung schreiben (»›Im Lager hat man auch mich zum Verbrecher gemacht‹ – Margarete Ries: Vom ›asozialen‹ Häftling in Ravensbrück zum Kapo in Auschwitz«, Bremen 2012). Mit diesem Titel ist das Thema des Abends in groben Zügen umrissen.

Die Gründe, weshalb das NS-Regime Margarete Ries – eine junge Frau ohne Berufsausbildung, die schon mit 18 Jahren ein Kind bekommt – als »Asoziale« verfolgt, sind die üblichen: Ihr wird im faschistischen Jargon »Arbeitsscheu« und ein »liederlicher Lebenswandel« vorgeworfen. Vom Frauen-KZ Ravensbrück wird sie nach Auschwitz überstellt. In einem der späteren Verhöre sagt sie: »Meine ersten Eindrücke in diesem Lager waren die, daß ein Menschenleben hier sehr wenig wert war.« Da sie mit allen Mitteln versucht, sich am Leben zu erhalten (Tauschgeschäfte und so weiter), gerät sie in die Mühle der Lagerstrafen. Im selben Verhör gibt sie als Erklärung für die ihr vorgeworfenen Handlungen an: »Durch die lange Haftzeit und die damit verbundenen seelischen und körperlichen Folterungen war ich zu der Zeit in meinem Gefühlsleben so abgestumpft, daß ich mir oft über die Folgen meiner Handlungen nicht im klaren war.«

Im ersten Verhör am 14. Januar 1948 hatte Ries alle ihr vorgeworfenen Taten geleugnet. Am Vortag war sie von der ehemals im Nebenlager Auschwitz-Budy inhaftierten Feiga Berkmann erkannt und von einem Bahnpolizisten festgenommen worden. In der Vernehmung vom 15. Januar zwang sie der US-amerikanische Militärjurist Captain Harold Oppenheim durch seinen scharfen Ton zum Reden: Zuvor hatte Feiga Berkmann ausführlich geschildert, wie Ries ihre Schwester und vier andere Frauen ums Leben gebracht hatte. Oppenheim verlangte von Ries eine Stellungnahme. Als er zunächst nicht durchdrang, drohte er ihr mehrmals, sie werde hängen, wenn sie nicht reden würde, und er provozierte sie, indem er ihr vorhielt: »Sie waren in Auschwitz, und Sie hatten eine gute Zeit dort. Es war eine wunderbare Zeit.«

Im Verlaufe der Vernehmung gestand Ries mehr und mehr der ihr zur Last gelegten Taten. Eine Zeugin sagte aus: »Gretel [so wurde Ries in Budy genannt] war sehr bestialisch. Gretel wollte sich [durch ihre Brutalität] immer auszeichnen, damit die Vorgesetzten auf sie aufmerksam wurden.« Doch obwohl die Zeuginnen grauenhafte Details hinzufügten, bescheinigte ihr die Spruchkammer am 5. Juli 1949, sie sei »vom Gesetz nicht betroffen«. Die Revision des öffentlichen Klägers wurde abgelehnt, das Urteil am 8. September 1949 bestätigt.

Wie war das möglich? Einer der Gründe lag im Umgang mit den Belastungszeuginnen. Wie Feiga Berkmann wanderten die meisten aus; zuvor sagen sie in ihren Wohnorten in Süddeutschland aus. Eine, die nicht auswanderte, konnte nicht in Bremen erscheinen, da sie erkrankt war.

Deswegen hätte man freilich auf ihre mündliche Aussage und Gegenüberstellung mit Ries nicht verzichten müssen.

Manche Entscheidungen sind heute schwer erklärlich, zum Beispiel, daß nach den vorliegenden Geständnissen der Margarete Ries ein Spruchkammer- und nicht ein Strafverfahren eingeleitet wurde, wie es der öffentliche Ankläger und der Vorsitzende der Spruchkammer dem »Senator für politische Befreiung«, Alexander Lifschütz, nahelegten. Sie sahen bereits die Gefahr, daß das voraussichtliche Fehlen politischer Motive im Handeln der Margarete Ries ein Spruchkammerverfahren zum Scheitern bringen würde. Lifschütz bestand jedoch auf dem Spruchkammerverfahren, weil sich nur so der Vorsatz in Ries’ Handeln nachweisen lasse.

Schließlich ist nicht zu übersehen, daß sich im Laufe der anderthalb Jahre, die das Verfahren dauerte, die Bedingungen für Ries ständig verbesserten: Nicht nur, daß sie selbst »Ängstlichkeit und Unsicherheit« allmählich abstreifte (Schöck-Quinteros/Dauks). »An dem Fall Ries«, bemerkte die Studentin Frederike Buda in einem Aufsatz zum Ries-Verfahren, werde auch deutlich, daß sich zwischen den internierten Nazis inzwischen »eine Art Netzwerk gebildet hatte«.

Unter denjenigen, die die Entnazifizierung (noch) voller Überzeugung betrieben, machten sich Enttäuschung und Resignation breit: So veröffentlichte der ehemalige Leiter der »Denazification Division«, Joseph F. Napoli, im Jahre 1949 eine kritische Gesamtbeurteilung der Entnazifizierungspolitik in Bremen. Wohl zu Beginn desselben Jahres legte Goebel seine Arbeit nieder, weil seiner Meinung die »Denazification Division« einflußreiche Nationalsozialisten schonte. Ein schlagendes Beispiel für die von ihm kritisierte Entwicklung lieferte die Tätigkeit des Bremer Rechtsanwalts Wilhelm Bellmer, der von 1933 bis 1945 der NSDAP und zeitweilig auch der SS angehört hatte, aber in seinem Entnazifizierungsverfahren als Entlasteter eingestuft worden war. Ihm gelang es als Verteidiger der Margarete Ries, das Spruchkammerverfahren – unter Hinweis auf
§ 250 der Strafprozeßordnung, der schriftliche Aussagen von Zeugen in einem Verfahren für nicht zulässig erklärt und eine persönliche Gegenüberstellung von Zeugen und Beklagten fordert – zu dem für seine Mandantin positiven Abschluß zu bringen. Schließlich folgte – wie Frederike Buda kritisiert – die Berufungskammer bezeichnender Weise »in ihrer Begründung in erschreckendem Ausmaß den Kategorisierungen und dem Jargon der NS-Zeit«. Zitat: »Es ist ein Verbrechen der NSDAP, minderwertige Charaktere [Hervorhebung L. Z.] wegen ihrer Brutalität als Aufsichtsorgane eingesetzt zu haben.«

Aus den Akten gehen nicht alle beschriebenen Zusammenhänge und Hintergründe hervor, und in den zweieinhalb Stunden der szenischen Lesung konnte die Wende vom Nachkriegsantifaschismus zum Kalten Krieg nicht sichtbar gemacht werden. Aber den vier Schauspielern gelang es mit sparsamen Mitteln sehr eindringlich, die gegensätzlichen Facetten der Margarete Ries, darzustellen: einmal als Opfer, da sie als »Asoziale« verfolgt wird, dann aber als Täterin, die nun ihr Leben um jeden – wirklich jeden – Preis retten will.

In erschütternder Weise unbefriedigend beantwortet bleibt – nicht nur im Fall der Margarete Ries – die Frage, die der Vorsitzende der V. Spruchkammer abschließend den vier Beisitzern stellte: »Kann die zukünftige demokratische Gesellschaft die Betreffende jemals als vollwertiges Mitglied in ihren Reihen aufnehmen?«

Margarete Ries, deren politische Belastung im Spruchkammerverfahren negiert worden war, blieb in Bremen, verdiente ihren Lebensunterhalt als Arbeiterin, heiratete 1956 einen Elektriker und starb Ende 1968.

Die vier für den April vorgesehenen Aufführungen sind bereits ausverkauft. Für den 7. und 8. Mai sind jedoch Zusatzvorstellungen vorgesehen. Karten zum Preis von 12 Euro (ermäßigt: 6 Euro) sind unter Telefon 0421/50 03 33 dienstags bis sonnabends von 15 bis 18 Uhr oder unter www.shakespeare-company.com/spielplan/ vorzubestellen. Am 2. September findet ein Gastspiel in Oberhausen statt.