Ach Europa ... (Christophe Zerpka)
– so lautete 1987 ein in Buchdeckel gebundener Seufzer von Hans Magnus Enzensberger. Ein schwärmerischer Spaziergang durch einen noch geteilten Kontinent, dessen regionale Eigenheiten als liebenswerte Alternative zu anderen monolithischen Staaten geschildert werden. Seither ist viel geschehen. Die große europäische Familie, in der jeder seinen Platz hat und seine Besonderheiten pflegen darf, ist einem bürokratischen Monster gewichen, welches sich allein an Wirtschaft und Wachstum orientiert. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft scheint sich eine Quizsendung aus den 60er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zum Vorbild genommen zu haben: »Einer wird gewinnen«, eine volkstümliche Variante des angelsächsischen »The winner takes it all«. Doch was passiert mit all den Verlierern? Zu Zeiten der Kulenkampff-Sendung bekamen die Ausgeschiedenen bisweilen einen kleinen Goldbarren als Trostpreis. Heute bekommen die Verlierer einen Tritt in den Hintern und das Brandzeichen des Taugenichts.
Der europäische Sozialstaatsgedanke, welcher den Kontinent trotz aller Rückschläge im letzten Jahrhundert immer ausgezeichnet hatte, ist einer brutalen Auslese gewichen, die einer »Reise nach Jerusalem« gleicht, bei der immer mehr Stühle fehlen. Und wehe dem, der nicht schnell genug einen Sitzplatz findet oder sich nicht an diesem zynischen Spiel beteiligt: Der Arbeitslose ist ein Drückeberger, der Grieche ein Faulpelz, der Spanier ein Verschwender, der Italiener ein Chaot. Nach innen wie nach außen werden Grenzen gezogen, die jeglichen Zusammenhalt verhindern sollen. Das schleichende Gift des Nationalismus breitet sich wieder aus in diesem europäischen Organismus, das Zusammengehörigkeitsgefühl wird brüchig, die EU-Einheitswährung ist für den Normalbürger nur ein Trostpflaster, die neoliberale Marktideologie bietet keine Lösung. Es werden immer mehr Waren mit immer weniger Arbeitskräften produziert, wodurch die Nachfrage wegbricht. Die stetige Ausweitung der Arbeitszeit sowie die Lohnkürzungen verstärkt dieses Dilemma noch. Die europäischen Staaten haben sich dem Primat der Ökonomie verschrieben und auf ausgleichende Steuermechanismen und soziale Abfederung weitgehend verzichtet. Die Politik ist nur noch in der Lage, den kommenden wirtschaftlichen Zusammenbruch durch fortlaufende Verschuldung möglichst lange zu verzögern.
Dennoch wird Europa von außen noch immer als Bastion des Sozialen angesehen. Im US-Wahlkampf brandmarken die Republikaner den alten Kontinent als dekadent-sozialistisches Negativmodell, doch für viele Afrikaner ist Europa mehr denn je ein Ziel, für welches sie viel Geld und oft genug auch das Leben opfern. Während innerhalb Europas »Freizügigkeit« herrscht und Arbeitskräfte sich bedarfsgerecht über Ländergrenzen hinaus verdingen sollen, stellt sich der Kontinent vor allem nach Süden als Festung dar. Quer durchs Mittelmeer geht ein Zaun, der mit perfidesten Methoden abgesichert wird. Wer es dennoch schafft, in das gelobte Land zu gelangen, den erwartet ein Leben zwischen Illegalität und sklavenähnlicher Ausbeutung.
Innerhalb Europas tun sich neue altbekannte Hegemonien auf. Der Euro ist die neue Wunderwaffe, um deutsche Dominanz durchzusetzen. Das am Export orientierte Modell soll als Blaupause für den Rest des Kontinents dienen, in Europa soll wieder deutsch gesprochen werden. Daß man durch die empfohlenen Sparmaßnahmen den eigenen Absatzmarkt trockenlegt, ist nur einer der vielen Widersprüche in diesem neoliberalen Tollhaus. Da verwundert es nicht, daß sich die europäischen Massen auf nationale Eigenständigkeit besinnen. »Ich bin stolz darauf, Europäer zu sein!« – wer könnte diesen Satz unbefangen aussprechen? Die europäische Misere läßt den Nationalstaat als bewährte Alternative erscheinen, immer mehr Europäer stimmen für nationalistische Parteien, die all das versprechen, was abhanden gekommen scheint: Vertrautheit, Identität, Solidarität, Sicherheit. Es ist das latente Gefühl der Heimatlosigkeit, der Anonymität, des Ausgeliefertseins an einen Superstaat, in dem unfaßbare Lobbyisten, Kommissare und Bürokraten das Sagen haben. Die belgische Hauptstadt ist zu einem Schimpfwort geworden.
Das vereinte Europa existiert nur in Sonntagsreden, die Realität sieht anders aus. Immer weniger Franzosen lernen deutsch, immer weniger Deutsche französisch, die Sprachen der kleinen Länder werden marginalisiert, es dominiert das Wirtschaftsenglisch der herrschenden Klassen. Wer innerhalb Europas reist, tut dies geschäftlich oder wegen des Klimas, ein wirkliches Kennenlernen findet kaum statt. Kulturelle Unterschiede werden eher als störend empfunden oder als Folklore verniedlicht.
In Enzensbergers Buch ist das letzte Kapitel ein Epilog, der im fiktiven Jahr 2006 spielt. Dort ist Europa grenzenlos, die NATO aufgelöst, die DDR gibt es noch, aber Europa, der »Brüsseler Schwachsinn«, endet in einer gigantischen Pleite. Nun sind, das wußte schon Karl Valentin, Prophezeiungen stets heikel, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Aber mit der Brüsseler Pleite könnte es doch noch etwas werden. In einem Gespräch des Protagonisten mit einem ehemaligen EU-Präsidenten sagt letzterer in Anlehnung an den Historiker Jacob Burckhardt: »Tödlich war für Europa immer nur eines – das erdrückende Machtmonopol eines Staates, möge es von innen oder von außen kommen. Jede nivellierende Tendenz, sei sie politisch, religiös oder sozial, ist für unseren Kontinent lebensgefährlich. Was uns bedroht, ist die Zwangseinheit, die Homogenisierung, was uns rettet, ist unsere Vielfalt.«