erstellt mit easyCMS
Titel0812

Mehr Europa?  (Arno Klönne)

»Wir wollen mehr Europa wagen« – so Joachim Gauck in seiner Einstandsrede als Bundespräsident. Solidarisch solle es dabei zugehen, fügte er hinzu. Nähere Angaben dazu, wie denn das Europäische vermehrt und welcherart Solidarität geübt werden soll, fehlten. Kommentatoren werteten, wohl zu Recht, Gaucks Ausspruch als kleine rhetorische Gefälligkeit gegenüber der Bundeskanzlerin, die einige Mühe hat, das inländische Publikum auf immer größere europäische »Rettungsschirme« und das ausländische auf den »Fiskalpakt« einzuschwören. Deklarationen zur Europapolitik sind derzeit im Schwange. Das SPD-Führungstrio Gabriel, Steinbrück und Steinmeier veröffentlichte in der F.A.Z. einen Gemeinschaftsaufsatz zu diesem Thema (sicherlich auch, um Teamfähigkeit zu demonstrieren) – sozialer solle es in der europäischen »Marktwirtschaft« zugehen, unter Führung der SPD habe die Bundesrepublik doch schon vorexerziert, wie das zu machen sei, mit der Agenda 2010. Deshalb sei der deutsche Arbeitsmarkt jetzt in bester Verfassung. Die »Schuldenbremse« müsse europaweit greifen, jedoch durch »Wachstumsimpulse« ergänzt werden. Woher diese kommen sollen und was da wachsen soll, sagen uns die drei Kandidaten für die Kanzlerkandidatur nicht. Sie verweisen auf eine Finanztransaktionssteuer, aber davon spricht auch Angela Merkel gern.

Wagemutiger klingt da in der Überschrift ein Appell von Wissenschaftlern und Gewerkschaftsführern, Rudolf Hickel, Jürgen Habermas, Frank Bsirske und Hans-Jürgen Urban sind darunter. »Europa neu begründen« heißt der Titel. Eine Steuer auf den Handel mit Finanzprodukten wird auch hier vorgeschlagen, für »Wachstum« ebenfalls plädiert, Eurobonds werden ins Gedankenspiel gebracht und – immerhin – Maßnahmen gegen die Expansion des Niedriglohnsektors verlangt. Jetzt müssen uns die Autoren dieses Appells nur noch sagen, wie denn und gegen welche Interessen diese nicht des Radikalismus verdächtige Forderung durchgesetzt werden kann. Im Zeichen des Fiskalpaktes? Er soll ja gerade dafür sorgen, daß sich in Europa Armutslöhne ausbreiten, daß durch Kürzung von staatlichen Sozialleistungen der Druck auf »ArbeitnehmerInnen« erhöht wird, sich damit abzufinden.

Wer Europa »neu begründen« will, wird nicht darum herumkommen, erst einmal klarzustellen, auf welchen Grundsätzen denn die gegenwärtigen Machtverhältnisse in den europäischen Ländern und zwischen ihnen beruhen.

Erstes Prinzip: Ungehemmte Verwertung und Vermehrung des großen privaten Kapitals hat absolute Priorität, dazu gehört die Handelsfreiheit von Finanzprodukten mit Maximalgewinnen, auch das freie Recht von großen Wirtschaftsunternehmen, die Ökonomien in schwächeren Ländern der Europäischen Union niederzukonkurrieren.

Zweites Prinzip: Wenn privates Kapital sich verkalkuliert hat, müssen über den Steuerstaat die Bürgerinnen und Bürger gewinnsanierend einspringen.

Drittes Prinzip: Bei Staatsverschuldung sind die Sozialetats zu senken. Verweigert sich eine Regierung dieser »Spar«-Politik, ist das Land unter Kuratel von »Fachleuten« des »Finanzmarktes« zu stellen. Und damit diese Grundsätze umgesetzt werden, ist ein innovatives System europäischer Politik entwickelt worden: Die regierenden Chefs oder Chefinnen der wirtschaftlich dominierenden Länder und Spitzenkräfte der privaten Wirtschaft handeln unter sich aus, was staatlich zu tun ist, notfalls vertraglich. Das Europäische Parlament darf dabei zuschauen, die nationalen Parlamente können nachträglich ihren Segen zu Entscheidungen geben, die sie nicht erdacht haben und kaum zu durchschauen vermögen.

Es ist nicht zu erwarten, daß die Machteliten in der Wirtschaft und die politische Klasse an diesem Zustand etwas ändern. Ihn in Frage stellen und aufbrechen können nur diejenigen, die unter ihm zu leiden haben. Protest von unten also, und einiges hat er schon in Bewegung gebracht.

Vom 16. bis zum 19. Mai gibt es auch in der Bundesrepublik, in Frankfurt am Main, eine Gelegenheit, sich daran zu beteiligen, unter dem Motto: Gegen das EU-Krisenregime. Nähere Informationen: www.european-resistance.org/de. »Mehr europäische Solidarität im Widerstand«, das wird hier versucht.